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Nahgeschichte ermöglicht Selbstbefragung

Dem Praktischen, das man sich nicht ausgesucht hat, widmet Valentin Groebner eine Nahgeschichte: „Man könnte sie auch eine Geschichte in Zeitlupe nennen: einen Gegenwartsgegenstand in verlangsamter Wiederholung ansehen.“ In diesem Modus – „noch einmal, aber ganz langsam“ – sieht das Alltägliche und vermeintlich Vertraute plötzlich erstaunlich fremd aus. Nahgeschichte mag nach Nacktschnecke klingen. Wie diese ist sie etwas glitschig und klebrig. Der Mensch haftet an dem, was ihn eigentlich anödet, anheimelnd nah. Aber Nahgeschichte ermöglicht Selbstbefragung. Die meisten Menschen wissen über das banale Alltägliche sehr viel weniger, als es ihnen selbst vorkommt. Valentin Groebner lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. Seit 2017 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Die Wikinger waren sehr heterogener Herkunft

Valhalla war für die frühmittelalterlichen heidnische nordischen Krieger die große Belohnung im Jenseits, also Endziel, finales Zuhause. Nur Männer kamen dorthin. Die Wikinger, weiß die neuere Forschung, waren nicht sehr nett zu ihren Frauen. Valentin Groebner weiß: „Archäologische Analysen ihrer Gräber zeigen, dass 37 Prozent der weiblichen Kinder bei ihnen unterernährt waren, gegenüber 7 Prozent der männlichen.“ In der Mitte des 6. Jahrhunderts erlebte Nordeuropa nach gewaltigen Vulkanausbrüchen mit globalen Folgen mehrjährige Dauerwinter.

Sie ließen gleichzeitig mit dem Zerfall des römischen Imperiums eine extrem gewalttätige Elite aufsteigen, eine „gangster culture“, wie eine neue Studie sie nennt. Ihre berühmten Raubzüge unternahmen sie nicht ganz freiwillig. Groß und blond waren die wenigsten von ihnen. Die Krieger auf den Drachenbooten, das haben genetische Analysen von Fundmaterial aus ganz Europa gezeigt, waren sehr heterogener Herkunft: Wikinger war keine Abstammung, sondern ein Beruf. Valhalla als Heimat gewalttätiger unfreiwilliger Junggesellen und Klimaflüchtlinge, ziemlich arme Schweine – will man da wirklich hin?

Jeder Mensch kommt sich einzigartig vor

Ob Polizist in Bayern oder Professor in der Schweiz, jeder kommt sich selbst einzigartig und so außergewöhnlich wie möglich vor. Valentin Groebner stellt fest: „Aber das eigene Wohlbefinden, und noch viele andere Dinge mehr, wie Arbeitsmöglichkeiten, Bewegungsfreiheit, Selbstbestimmung, sind direkt abhängig von unsichtbaren, machtvollen Kollektivkörpern. Sie sind, wie wir 2020 gelernt haben, als Immunsysteme organisiert.“ In Immunsystemen ist man immer Teil eines Kollektivs, unabhängig davon, wie man sich selbst beschreibt und ob man mitmachen will oder nicht.

Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ließen all die einzigartigen Individualitäten unwichtig aussehen. Einreise- und Ausgangssperren, die Verpflichtung zu Gesichtsmasken, Quarantäne und zum daheimbleiben galten für alle, ausnahmslos. Der Wechsel vom selbstverständlichen Reisen zum behördlich untersagten Risikoverhalten war ebenfalls drastisch. Die Digitalisierung war plötzlich nicht mehr selbst gewähltes Werkzeug oder zusätzliche Option, sondern Zwang. Quelle: „Bin ich das?“ von Valentin Groebner

Von Hans Klumbies

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