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Die Mordlust besiegt die Vernunft

Judith Butler betont: „Sigmund Freud war ganz und gar nicht überzeugt, dass die Vernunft mörderische Wünsche im Zaum halten kann. Und er äußerte diese Bemerkung, als die Welt am Rand eines neuen Krieges stand.“ Es ist dabei deutlich, wie sich ein bestimmtes zirkuläres Denken zum Instrument der Aggression verwandelt, ganz gleich, ob man diese Aggression wünscht oder fürchtet. Angesichts der Realität destruktiver Triebe war ethische Strenge für Sigmund Freud unabdingbar. Zugleich fragt er sich, ob sie ausreicht. In „Das Unbehagen in der Kultur“ bemerkt Freud zum Über-Ich in seiner ethischen Strenge scherzhaft, dass es „sich nicht genug um die Tatsachen der seelischen Konstitution des Menschen“ kümmert und vielmehr annimmt, „dass dem Ich die unumschränkte Herrschaft über sein Es zusteht.“ Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Das Unbewusste mordet selbst für Kleinigkeiten

Sigmund Freud fügt hinzu: „Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist die stärkste Abwehr der menschlichen Aggression und ein ausgezeichnetes Beispiel für das unpsychologische Vorgehen des Kultur-Über-Ichs.“ In seinem frühen Text „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915) heißt es: „Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, dass wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.“

Nachdem er die Entwicklungsrichtung der Zivilisation – zugleich mit dem falschen moralischen Versprechen der weißen Herrschaft – infrage gestellt hat, statuiert Sigmund Freud eine unbewusste Dimension des Lebens in allen Kulturen: „Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen täglich und stündlich alle, alle, die uns im Weg stehen […] Ja, unser Unbewusstes mordet selbst für Kleinigkeiten.“ Die Menschen können sich nur wundern, so Sigmund Freud, wie auch bei moralisch Erzogenen „das Böse wieder so tatkräftig zum Vorschein kommt“.

Keine Position gegen Gewalt kann sich Naivität leisten

Judith Butler fügt hinzu: „Etwas an den mörderischen Impulsen bleibt bis zu einem gewissen Grad unbelehrbar, ganz besonders, wo Individuen sich Gruppen anschließen.“ Man sollte die Macht dieser „unbeherrschbaren“ Dimension der psychischen Realität, die Sigmund Freud schließlich mit dem Todestrieb in Verbindung bringt, nicht unterschätzen. Vor allem der Begriff des „Kollateralschadens“ steht für Judith Butler wohl für diese Denkweise auf der Basis einer Verleugnung, die faktisch ein Instrument der Zerstörung ist.

Keine Position gegen Gewalt kann sich Naivität leisten. Sie muss das destruktive Potenzial ernst nehmen, das konstitutiver Bestandteil Beziehungen oder, wie mache sagen, des „sozialen Bundes“ ist. Wenn man aber den Todestrieb oder seine als Aggression und Destruktivität definierte Spätversion ernst nimmt, muss man sich allgemein dem Dilemma stellen, was moralische Gebote gegen Zerstörung für das psychische Leben bedeuten. Handelt es sich um ein moralisches Gebot, das eine konstitutive Dimension der Psyche aushalten will? Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler

Von Hans Klumbies

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