Böse Taten unterliegen stets einer subjektiven Wertung
Die bösesten Taten sind jene, die genau geplant, mit eiskalter Berechnung durchgeführt werden und dann auf einen qualvollen Tod des Opfers zielen. Trotz der mit amerikanischem Pragmatismus erfolgten Graduierung des Bösen wird man böse Taten niemals wirklich quantifizieren können. Reinhard Haller nennt einen Grund: „Neben den religiösen, moralisch-ethischen und gesetzlichen Maßstäben bleibt die subjektive Wertung stets ein entscheidendes Kriterium.“ Eine der spannendsten, bis heute heiß umstrittenen Fragen ist jene, ob es den Mord oder überhaupt das Verbrechen ohne Motiv gibt. Literaten und Philosophen haben sich mit dieser Frage viel mehr beschäftigt als Kriminologen und Psychiater. Etwa Friedrich Nietzsche in „Der Wanderer und sein Schatten“ oder Max Frisch in „Graf Öderland“. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.
Die innere Leere kann zu einem Verbrechen führen
Die Hauptfigur in dem Roman „Der Fremde“ von Albert Camus tötet ohne jegliches Motiv einen Mann. Camus sieht in dessen Verbrechen einen Aufschrei gegen die Leere des Lebens. Die Kulturschaffenden rücken die Sinnlosigkeit des Daseins und das überhandnehmende Gefühl der Entfremdung in den Mittelpunkt. Wenn das Leben keinen Sinn hat, braucht das Verbrechen keine Erklärung. Es geschieht einfach. Der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge hat in seinem Roman „The Rime of the Ancient Mariner” eine solche Einstellung zum Verbrechen auf grandiose Weise beschrieben.
Ein alter Seefahrer erschießt mutwillig einen edlen Albatros. Die Hauptsünde sieht der Autor nicht im Verbrechen, sondern in der zugrunde liegenden inneren Leere. Auch bei berühmten Kriminalfällen wurde von fehlendem Motiv gesprochen. Das Bedürfnis nach einem Motiv ist aber bei allen Akteuren eines Kriminalfalles extrem hoch. Der Täter sagt: „Das war ich nicht, ich hatte ja kein Motiv.“ Die Kriminalisten folgen dem Grundsatz: „Keine Tat ohne Motiv.“ Die Anklage braucht unbedingt ein Motiv, die Verteidigung führt die angebliche Motivlosigkeit als Entlastungsgrund an.
Verbrechen haben fast immer Ursachen
Die Medien wollen ein Motiv, ganz nach dem Grundsatz: „Motive liefern die schönsten Storys.“ Selbst die Öffentlichkeit giert geradezu nach den Motiven der Täter. Als etwa vor Jahren ein Kriminalfilm mit dem Titel „Mord ohne Motiv“ angekündigt wurde, lautete ein Kommentar: „Man will uns natürlich bluffen, wir werden darauf nicht hereinfallen, ein motivloses Verbrechen gibt es nicht.“ Tatsächlich wird in der Diskussion häufig das Motiv mit der Ursache verwechselt.
Reinhard Haller ergänzt: „Auch müsste es konkret lauten, dass manche Taten nicht motivlos sind, sondern kein Motiv erkennen lassen.“ Bei genauer Analyse motivisch unklarer Delikte findet man jedoch fast immer Ursachen, wenngleich diese oft trivial anmuten oder diagnostisch nicht zu fassen sind. Oft lassen sich bei den Tätern symptomarme Störungen wie Borderline oder wahnhafte Entwicklungen feststellen, immer häufiger auch narzisstische Spannungszustände. Quelle: „Das Böse“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies