Der Geist bewegt sich zwischen Vernunft und Traum
Jeden Tag bewegt sich ein Mensch durch ein Kontinuum körperlicher Zustände abwärts. Von einem ausgeruhten, relativ hellwachen Zustand über Müdigkeit und Schlafbedürfnis bis hin zu Schlaf und Träumen. Diesem Spektrum der körperlichen Zustände entspricht ein Spektrum des Geistes, der Qualitäten des Bewusstseins. David Gelernter erklärt: „Im oberen Teil des Spektrums konzentrieren wir uns auf die Außenwelt, auf Abstraktion und Vernunft. Wenn wir uns allmählich von Aufmerksamkeit über Entspanntheit und Müdigkeit bis zur Schläfrigkeit, Abwesenheit und dem Einschlafen bewegen, nimmt unsere mentale Konzentration immer weiter ab.“ Am Ende brennt die menschliche Fähigkeit, vernünftig zu denken und zu reflektieren, wie eine Kerze herunter, bis sie praktisch völlig erloschen ist. Gleichzeitig beginnt die höchst unberechenbare, tosende, steil hinab über Windungen und Biegungen rasende Achterbahnfahrt durch das Spukhaus der Träume. David Gelernter ist Professor für Computerwissenschaften an der Yale University.
Erinnerungen an die frühe Kindheit sind sehr emotional
Aber – und das ist eine der vielen Überraschungen, die der Geist zu bieten hat – das Sinken ist damit nicht zu Ende. David Gelernter erläutert: „Wenn wir vom Äußeren zum Inneren, vom Objektiven zum Subjektiven, vom Wachen zum Schlafen hinuntersinken, sinken wir auch aus der Gegenwart in die Vergangenheit.“ Unwiderstehlich wird man von Gefühlen angezogen – Liebesgeschichten, Horrorgeschichten, das spielt keine Rolle. Was einen Menschen anzieht, ist die Intensität. Rationale Intelligenz wehrt emotionale Erinnerungen, die das geradlinige Denken stören, ab.
Aber die Rationalität ist müde geworden und eingeschlafen, und nun haben die emotionalen Erinnerungen die Möglichkeit, das Bewusstsein zu überfluten. Am emotionalsten sind in der Regel Kindheitserinnerungen, häufig sogar solche aus der frühen Kindheit. Da man nicht mehr in der objektiven Realität zu Hause ist, stellt jede derartige Erinnerung eine alternative Realität dar. Sie zieht einen Menschen völlig aus dem Jetzt in die Vergangenheit. Deshalb sinkt man aus Objektivität, Rationalität, Wachheit hinunter – und taucht ein in die Vergangenheit.
Der Geist ist ein wunderschöner Mechanismus
Im oberen Teil des Spektrums stellt ein Mensch durch Vernunft, Abstraktion und informelle Logik in der Welt Sinn her. Aber das verändert sich allmählich, und das Erzählen von Geschichten wird zur Methode der Wahl. David Gelernter ergänzt: „Gleichzeitig nimmt die Tätigkeit der rationalen Reflexion immer stärker eine emotionale und sinnliche Färbung an und wird zum Sein: Wie wir sind, bestimmt darüber, was wir tun.“ Die Emotionen treten immer mehr in den Vordergrund, wenn das reflektierende Denken verblasst und die Leuchtkraft der Erinnerungen zunimmt.
Die Welt des reinen Seins ist für den Geist des Menschen ebenso wichtig wie die Welt des reinen Denkens im oberen Teil des Spektrums. Und doch nehmen viele Wissenschaftler sie mehr oder weniger nicht zur Kenntnis. Der Geist, der sich durch das Spektrum bewegt, ist für David Gelernter ein komplexer, wunderschöner Mechanismus. Er wechselt zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, und währenddessen treten die von Geschichten eingefassten Themen, die das menschliche Leben bestimmen, hervor. Quelle: „Gezeiten des Geistes“ von David Gelernter
Von Hans Klumbies