Julia Shaw erklärt die Fuzzy-Trace-Theorie
Eine Theorie, die genauer zu erklären versucht, warum Menschen inkorrekte Erinnerungen bilden, heißt Fuzzy-Trace-Theorie. Dabei handelt es sich um eine ausgesprochen elegante Theorie, mit deren Hilfe sich viele Phänomene des Gedächtnisses erklären lassen. Sie postuliert, dass es bei der Erinnerung um zwei Dinge geht: Um eine „gist trace“, eine Spur des Wesentlichen oder des Bedeutungskerns einer Erfahrung und um eine „verbatim trace“, eine wortwörtliche Spur, die eine Erinnerung an die spezifischen Einzelheiten ist. Julia Shaw ergänzt: „Die meisten Erinnerungen enthalten sowohl die Bedeutung erfassende als auch die wortwörtliche Komponente.“ Julia Shaw stellt vier Prinzipien vor, die erklären, wie es zu Erinnerungstäuschungen kommt. Bei dem ersten Prinzip handelt es sich um parallele Verarbeitung und Speicherung. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
Das Gehirn speichert Erinnerungen separat
Dabei encodieren Menschen wortwörtliche Erinnerungsspuren und solche, die den Bedeutungskern erfassen, gleichzeitig und speichern sie als dissoziierte Repräsentationen. Wenn man beispielsweise eine Szene beobachtet, verarbeitet man zur gleichen Zeit, wie die Szene aussieht (verbatim) und welche Bedeutung oder Interpretation man ihr zuschreibt (gist). Diese beiden Informationsgruppen werden separat gespeichert. Beim zweiten Prinzip geht es um den getrennten Abruf. Dabei ruft das Gehirn unterschiedlichen Erinnerungsspuren auch getrennt ab.
Julia Shaw erläutert: „Das heißt, dass die eine Art von Erinnerungsspur von einer Erfahrung stärker sein kann als die andere. Es heißt auch, dass eine Art, beide Arten oder gar keine Art von Erinnerungsspur als Reaktion auf eine gegebene Situation zugänglich sein kann.“ Das hilft, zu erklären, warum man sich manchmal an den Namen einer Person erinnern kann, aber nicht mehr daran, was man von ihr hält. Im schlimmsten Fall erinnert man sich weder an das eine noch an das andere, im besten Fall an beides.
Jeder Erinnerung ist in Fragmenten gespeichert
Beim dritten Prinzip handelt es sich um die Fehleranfälligkeit. Der unabhängige Abruf der beiden Arten von Erinnerungsspuren setzt Individuen einer Vielzahl potentieller Erinnerungsfehler aus. Julia Shaw erklärt: „Die grundsätzlich unscharfe Natur von Erinnerungsfragmenten zur Bedeutung einer Sache erlaubt, dass Gefühle der Vertrautheit mit einem bestimmten Ergebnis die Erfindung von wortwörtlichen Details verursachen.“ Es ist dabei ein normaler Prozess, dass eine Person versucht, ihre das Wesentliche erfassenden Erinnerungen so zu verstehen, dass sie zu ihrer persönlichen Geschichte passen.
Das vierte Prinzip handelt von der Lebendigkeit. Sie ist sowohl für die Verarbeitung von wortwörtlichen als auch für die Bedeutung erfassenden Spuren lebhafter Erinnerungen zuständig. Besonders starke Erinnerungsspuren können das fördern, was man als Phantomerinnerung bezeichnet. Julia Shaw fasst zusammen: „Die Fuzzy-Trace-Theorie postuliert, dass Erinnerungstäuschungen möglich sind, weil jede unserer Erinnerungen in einer Vielzahl von Fragmenten gespeichert ist; und diese Fragmente können auf eine Weise neu kombiniert werden, die dem tatsächlich Geschehenen nicht entspricht.“
Von Hans Klumbies