Jeder Mensch trägt Gutes und Böses in sich
Wie können, so fragen sich viele Menschen, das Gute und das Böse, das Normale und das Abartige in einer Person vereint sein und in unmittelbarer Form nebeneinander existieren? Reinhard Hallers Antwort lautet: „In jedem Menschen ist das Gute und Böse vorhanden und kann je nach Veranlagung, Erziehungseinflüssen, Lebenserfahrungen und äußeren Umständen in der einen oder anderen Form manifest werden.“ Sofern psychische Krankheiten keine Rolle spielen, muss der Mensch die Fähigkeit zur Spaltung in „ganz gut“ und „ganz böse“, in „normal“ und „abnormal“ besitzen. Und er muss imstande sein, mit diesem unmittelbaren Nebeneinander zu leben. Es erübrigt sich deshalb für Reinhard Haller die Frage nach einer eindeutigen Unterscheidung in gute und böse Menschen. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.
Morde ohne Schuldgefühle sind möglich
Die amerikanische Soziologin Troy Duster fand bei Untersuchungen von Vietnam-Kriegsverbrechern Vorbedingungen für den Mord ohne Schuldgefühle heraus. Die allgemeinste Bedingung ist es, den Opfern jeglichen menschlichen Status abzusprechen. Sie werden als minderwertige Rasse, Brut, unnütze Esser, Volksschädlinge, lebensunwerte Existenzen oder – je nach Zielgruppe – als Niggers und Japs bezeichnet. Die Entmenschlichung benützt Ausdrücke wie Rassenschande, Volkshygiene oder Säuberung.
Die nächste Bedingung ist es, das Unglück der eigenen Person oder einer Gesellschaft auf das Opfer beziehungsweise auf eine Minderheit zu projizieren. Während es früher Juden und Zigeuner waren, sind es heute Ausländer, Flüchtlinge und Asylbewerber. Die dritte Bedingung ist die Entwicklung einer Gruppenmoral. Sie ist vor allem bei Gangs, Terrororganisationen, jugendlichen Banden, aber auch im Pflegekorps oder in totalitären Systemen stark ausgeprägt. Obwohl diese Gruppenmoral von den Gesetzen der jeweiligen Gesellschaft stark abweicht, ist sie für die Mitglieder verbindlich.
Von Menschen ohne Gewissen droht die größte Gefahr
Diejenigen, die sich nicht daran halten, müssen mit Sanktionen bis hin zum Fememord rechnen. Die vierte Bedingung ist die Heimlichkeit, mit welcher die Taten verübt werden. Dies setzt aber oft eine stille Duldung durch die Öffentlichkeit voraus, Reinhard Haller denkt dabei etwa an den Einsatz der Folter in Guantánamo. Die fünfte Bedingung ist die Existenz einer Zielpopulation. Die sechste Voraussetzung ist jene der Motivation, die oft in primitiven Reflexen oder in bösen Ideologien liegt.
Der Zusammenhang zwischen dem Bösen und der Normalität bezieht sich aber nicht nur auf die Frage, wie aus ganz normalen Männern Massenmörder oder aus unauffälligen Menschen Schwerverbrecher werden können. Die Frage bezieht sich auch darauf, wie weit das Böse seinen Schrecken verliert und zur Banalität wird. Und darauf, wie weit sich die Hemmschwelle eines Menschen senken lässt und er das böse Handeln als normal erlebt. Dieser Schritt ist der gefährlichste, da es dann keine Hemmschwelle, keinen Moralinstinkt und kein Gewissen mehr gibt. Quelle: „Das Böse“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies