Eine Kindergartenpflicht wäre ein Segen
Dass Menschen ihre Kinder gewaltfrei erziehen können und ihren Nachwuchs nicht, wie Schimpansenmütter es tun, in die Ohren beißen müssen, um sie zu sozial verträglichem Verhalten zu veranlassen, verdankt der Mensch der Sprache. Die Fähigkeit des Kindes, die Perspektive anderer einnehmen zu können, ist im Kind zwar angelegt, aber nur als Potenzial. Joachim Bauer rät: „Nur wenn wir mit Kindern über ihr Verhalten – über Jahre hinweg – im ständigen Gespräch sind, nur wenn wir sie bei Bedarf immer wieder freundlich korrigieren und ihnen im Übrigen ein gutes Vorbild sind, nur dann kann sich dieses Potenzial auch entwickeln.“ Wenn die Eltern die Fähigkeit zum Wechsel der Perspektive mit dem Kind einüben, kann die obere Etage des Stirnhirns reifen. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Kinder müssen den Wechsel der Perspektive einüben
Die sich hier bildenden neuronalen Netzwerke sind in der Lage, Informationen darüber abzuspeichern, wie sich das, was man selbst tut, aus der Perspektive anderer Menschen darstellt. Die Netzwerke der oberen Etage des Stirnhirns ermöglichen es dem Menschen, sich bewusst und reflektierend mit den Augen anderer zu sehen. Ebenso aber, sich selbst wie von außen zu beobachten. Ein optimales Biotop für die Einübung des Wechsels der Perspektive – und damit für die Reifung der oberen Etage des Stirnhirns – ist eine Gruppe von mehr oder weniger Gleichaltrigen und das sich in solchen Gruppen entwickelnde Spiel.
Spätestens im dritten Lebensjahr sollten Kinder daher einen größeren Teil in einer solchen Gruppe verbringen. Joachim Bauer fordert: „Diese Gruppen müssen von qualifizierten Pädagoginnen und Pädagogen betreut werden.“ Kinder können die Geheimnisse des guten sozialen Miteinanders, deren Entdeckung die Menschheit Jahrtausende gekostet hat, nicht im Schnelldurchgang entschlüsseln. Sie brauchen dabei Hilfe. Eine Kindergartenpflicht für alle Kinder ab dem dritten Lebensjahr wäre daher ein Segen.
Nur geliebte Kinder entwickeln Lebensfreude
Das wichtigste Bedürfnis und die zentrale Grundmotivation des Kindes ist und bleibt, auch jenseits des zweiten Lebensjahres, die verlässliche Bindung an einige wenige Bezugspersonen. Dazu zählen Eltern oder Elternteile, Erzieherinnen oder Erzieher, Großeltern und eventuelle weitere Verwandte. Ein junger Mensch braucht über die gesamte Kindheit und Jugend hinweg eine oder – besser – einige wenige Personen, an die er sich vertrauensvoll wenden kann. Und von denen er sich auch dann geliebt fühlt, wenn ihm etwas misslungen ist, wenn ihm Leid zugefügt wurde oder wenn er einen Fehler gemacht hat.
Kinder und Jugendliche entwickeln Vitalität und Lebensfreude nur dann, wenn sie sich geliebt und zugehörig, also sicher gebunden fühlen. Joachim Bauer weiß: „Vitalität, Lebensfreude und Motivation sind an die Aktivität spezifischer, im Mittelhirn platzierter neuronaler Netzwerke gekoppelt, die als Motivationssystem bezeichnet werden.“ Nur sie sind in der Lage, den Botenstoff Dopamin zu produzieren, ohne den die psychischen Kräfte eines Menschen erlahmen. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies