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Moderner Sex kennt keinen klaren Kurs

Ungewissheit meint nicht die Unklarheit, die damit verbunden ist, dass Worte mehr als eine Bedeutung haben können und die Absichten von Akteuren nicht immer durchsichtig sind. Eva Illouz erklärt: „Der erste Umstand kann unterhaltsam sein, während der zweite normalerweise keine Angst auslöst.“ Ungewissheit rührt vielmehr daher, dass die Grundlagen einer Interaktion nicht als selbstverständlich gelten können. Deshalb muss sich jeder die Definition einer Situation selbst zusammenreimen. Denn die Verhaltensregeln für Interaktionen sind unklar, obwohl die Akteure Klarheit anstreben. Ungewissheit hat damit direkte psychische Auswirkungen, die von Scham, Unbehagen und Verlegenheit bis zu Angst und Unsicherheit reichen können. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Außerdem ist sie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

Die Sexualität entwickelt eine autonome Handlungssphäre

Tatsächlich löst Ungewissheit im Normalfall Angst aus und wird selten auf spielerische Weise behandelt. Ungewissheit kann man als Gefühlsstruktur verstehen, als gelebte Erfahrung eines umfassenden Gefühls von Verletzlichkeit, Angst und Hoffnung. Manche Akteure sind geschickt darin, Ungewissheit zu bewältigen, andere lernen im Dschungel der Selbsthilferatgeber, mit ihr zurechtzukommen, wieder andere ziehen sich entmutigt zurück. Für Erving Goffman sind sämtliche Interaktionen zwischen menschlichen Lebewesen in Rahmen organisiert.

Diese Rahmen sind als ein kognitiver, perzeptiver und sozialer Prozess zu verstehen. Dieser erlaubt es den Akteuren, die Anhaltspunkte, Schemata oder Muster einer Interaktion zu lesen, einzuordnen und sich in ihr zu orientieren. Die Sexualität hat sich heutzutage zu einer autonomen Handlungssphäre entwickelt. Moderne heterosexuelle Beziehungen haben von sich aus kein Ziel mehr und kennen keinen klaren Kurs. Heterosexuelle Begegnungen haben sich in drei mögliche Handlungsregime aufgesplittert, in das eheliche, in das emotionale und in das sexuelle.

Beim Gelegenheitssex gibt es kein Drehbuch

Dies bringt schon eine Ungewissheit über den Rahmen und die Definition einer Interaktion mit sich. Frauen und Männer geben häufig an, dass sich Beziehungen in viele unterschiedliche Richtungen entwickeln können, von denen sie vorher keine Ahnung haben. Beim „etwas miteinander haben“ scheint völlige Ungewissheit darüber zu bestehen, was eigentlich das Ziel und der übergreifende Rahmen der Interaktion ist. Diese Ungewissheit wird durch die Entwicklung neuer Apps wie Tinder noch erheblich verschärft und vergrößert.

Bei Tinder kann es lediglich um schnellen, austauschbaren Sex gehen oder um die Möglichkeit eine „Traumfrau“ kennenzulernen. Daneben gibt es vielförmige und unbestimmte Möglichkeiten zwischen diesen beiden Extremen. Traditionell folgen das Liebeswerben und die Partnersuche sowohl in kognitiver als auch in praktischer Hinsicht eng einem vorgeschriebenen Drehbuch. Dagegen nimmt der moderne Gelegenheitssex den Liebesbeziehungen sozusagen ihren Skriptcharakter. Quelle: „Warum Liebe endet“ von Eva Illouz

Von Hans Klumbies

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