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Sucht ist heutzutage keine Sünde mehr

Die sogenannten Normalen verachteten früher Süchtige als Sünder. „Trinkerheilanstalten“ waren im 19. Jahrhundert eingerichtet worden, um die Alkohol-„Sünder“ zur Umkehr zu bewegen. Manfred Lütz weiß: „Die alte Verachtung, die Peinlichkeit der Krankheit, die Scham, das sind noch heute die wichtigsten Hemmungen, die Menschen daran hindern, zur eigenen Sucht zu stehen.“ Doch Sucht ist keine Sünde. Wer sich etwas darauf zugutehalten möchte, nicht süchtig zu sein, der sollte wissen, dass es sogar einen nicht unerheblichen Erbfaktor gibt, für den niemand verantwortlich ist. Außerdem kann jeder Mensch in eine tragische Situation geraten, in der er mit süchtigem Verhalten reagiert. Es sind dann gerade die besonders sensiblen Menschen, die von Suchtmitteln abhängig werden. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.

Süchtige sind oft feinfühliger als Normale

Wer hemmungslos über Leichen gehen kann, der wird kaum süchtig. So repräsentieren die Süchtigen den Schatten einer Gesellschaft von Normalen. Diese treibt die Menschen im Licht zu immer unerreichbareren Zielen und für die Scheiternden nur noch das Dunkel und die Nischen am Rande übrig hat. Manfred Lütz ergänzt: „Für die Dünnhäutigen und Einfühlsamen ist da kein Platz mehr. Es wird kälter und die coolen aalglatten Typen sind die privilegierten Überlebenskünstler in einer reibungslos funktionierenden Welt, in der die humanitäre Temperatur sinkt.“

Süchtige strahlen oft mehr menschliche Wärme aus. Nicht selten sind sie feinfühliger als Normale. Und es sind andererseits die hemmungslos Normalen, die mit ihrer rücksichtslosen Aggressivität Menschen in die Sucht treiben können. Manfred Lütz stellt fest: „Auch wenn die Therapie sich sinnvollerweise auf die Verantwortung des Patienten für sein Verhalten konzentriert. Dieser Aspekt ist keineswegs die ganze Wahrheit.“ Und wer die anstrengenden Lebensgeschichten mancher Süchtiger verfolgt hat, der kann nur mit Hochachtung von den manchmal fast übermenschlichen Mühen dieser Menschen haben, die immer wieder scheitern und immer wieder neu anfangen.

Gerade bei Süchtigen entdeckt man manchmal ungeahnte Fähigkeiten

Wer sich angewöhnt hat, den Blick auf die Fähigkeiten der Patienten zu richten, der entdeckt gerade bei Süchtigen reiche Schätze. Obdachlose Alkoholiker hält man gemeinhin für Menschen, die gar nichts können, die völlig gescheitert sind. Schaut man genauer hin, ergibt sich ein anderes Bild. Manfred Lütz nennt ein Bespiel: „Kaum ein Normaler wäre in der Lage, im Winter in Köln auch nur eine Woche als Obdachloser klarzukommen. Jeden Tag aufs Neue seinen Platz für die Nacht zu organisieren, Essen und vor allem genug zu trinken, um dem Entzug zu entgehen.“

Dafür braucht man gute Beziehungen, die täglich gepflegt werden wollen. Welcher Normale könnte das schon aus dem Stand? Macht man sich das klar, geht man viel wertschätzender mit solchen Patienten um, und dann ergibt sich eine kooperative Therapiebeziehung ganz von allein. Manfred Lütz betont: „Je mehr man sich mit Süchtigen befasst, desto mehr Respekt nötigen sie einem ab.“ Und man schämt sich mitunter für die kaltherzigen Normalen, die meinen, so viel besser zu sein als „die da“. Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz

Von Hans Klumbies

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