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Grausamkeit will die Unversöhnlichkeit

Der französische Philosoph und Ethnologe Marcel Hénaff beschreibt die Grausamkeit als eine verdoppelte Gewalt. Nämlich als eine „Gewalt in der Gewalt“: „Sie setzt die Absicht voraus, den Gegner durch physischen Schmerz leiden zu lassen und ihn über den Sieg hinaus durch Erniedrigung in Verzweiflung zu stürzen. Die Grausamkeit zeigt den leidenschaftlichen Willen an, die Menschlichkeit des anderen zu vernichten. Wolfgang Müller-Funk erklärt: „Diese mit dieser spezifischen Form von Macht und Gewalt verbundenen Radikalität stellt für Hénaff die eigentliche hermeneutische Herausforderung dar.“ Für den Franzosen wählt die Grausamkeit die Unumkehrbarkeit. Sie will die Unversöhnlichkeit. Wolfgang Müller-Funk war Professor für Kulturwissenschaften in Wien und Birmingham und u.a. Fellow an der New School for Social Research in New York und am IWM in Wien.

Gewalt und Grausamkeit sind oft schwer zu unterscheiden

Um sich der Grausamkeit zu nähern, unterscheidet der französische Anthropologe vier verschiedene Formen. In diesen wird in unterschiedlicher Intensität „Gewalt in der Gewalt“ vollzogen. Die Grenzen zwischen Gewalt und Grausamkeit sind dabei mitunter fließend. Bei der „juristischen und rituellen“ Grausamkeit ist das zentrale Ziel nicht so sehr das Leiden. Dieses ist allenfalls ein Mittel zum Ziel beziehungsweise ein Nebeneffekt. Manche Beschreibungen Herodots fallen in diese Kategorie, aber auch die Exzesse, die Gustave Flaubert in seinem orientalischen Roman „Salammbô“ vorgeführt hat.

In Pogromen wie auch in Massakern zeigt sich die Gewalt als ein plötzliches Ereignis. Hier spielen affektive Momente eine spezielle Rolle. Wolfgang Müller-Funk weiß: „Dabei übernimmt nicht selten eine Person die Rolle des Anführers oder Agitators, der eine ganze Gruppe gegen andere Menschen aufhetzt. Der Anführer verkörpert das kalte und intentionale Moment, die sich um ihn scharen das emotionale, den Affekt.“ Ein anschauliches Bild hierzu findet sich in Joseph Roths Roman „Tarabas“.

Die Folter will „die Wahrheit“ herausfinden

Die Folter stellt hingegen eine „professionell ausgeübte psychische und physische Grausamkeit“ dar, die man dazu einsetzt, „die Wahrheit“ herauszufinden. Dazu gehören erpressende Verhörtechniken, wie sie sowohl Jean Améry für den Nationalsozialismus als auch Arthur Koestler für den Stalinismus beschrieben haben. Diese sind bereits in der Inquisition im ausgehenden Mittelalter methodisch ausgefeilt und erprobt worden. In der „willkürlichen und experimentellen Misshandlung“ dient die pure Grausamkeit dem Selbstzweck.

Dies wäre der Fall in Robert Musils kurzem Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Wolfgang Müller-Funk erläutert: „All diese Formen gedoppelter Gewalt verdanken sich einer spezifisch menschlichen Entwicklung. Diese ist in der gängigen Evolutionstheorien nicht vorgesehen und Hénaff apostrophiert sie an einer Stelle als Zufälle der Evolution.“ So fasst er das Experimentieren mit Möglichkeiten, die daraus gewonnene Freiheit und die neuen, durch die Wortsprache bedingten Spielräume und Repräsentationsformen als Momente einer kulturellen Entwicklung, die zu völlig „künstlichen“ Formen von Gewalt führen. Quelle: „Crudelitas“ von Wolfgang Müller-Funk

Von Hans Klumbies

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