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Die Verfeinerung der Liebe erfordert viel Zeit

In einem von Herzen kommenden Brief teilt der deutsche Dichter Reiner Maria Rilke seinem Freund Friedrich seine jüngste Schlussfolgerung über die Funktionsweise der Liebe mit: „Da habe ich immer und immer wieder erfahren, dass es kaum etwas Schwereres gibt, als sich lieb haben. Dass das Arbeit ist, Tagelohn, Friedrich, Tagelohn. Weiß Gott, es gibt kein anderes Wort dafür.“ Der Hirnforscher und Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto ergänzt: „Vertraulichkeit ist kein unabänderliches Talent, sondern eher eine Reise. Wie andere Fertigkeiten vervollkommnet sie sich durch Versuch und Irrtum. Intimität und Nähe bedeuten das Aufführen, Proben und Verfeinern verschiedener Arten der Verbindung.“ Jedes Mal, wenn man anfängt, eine Beziehung aufzubauen, hat man eine Chance, zu lernen, wie Intimität funktioniert. Das gilt sowohl kurz- als auch langfristig. Ob die Verbindung ein paar Monate, Jahrzehnte oder ein Leben lang hält, die Verfeinerung erfordert Zeit.

Wie das Gehirn die Zeit verfolgt ist ungeklärt

Zeit ist eine wesentliche Dimension der Erforschung des Geistes. Doch wie der Geist, oder das Gehirn, die Zeit verfolgt und wie ein Mensch sie in einer Bandbreite von Ereignissen und Situationen wahrnimmt, ist immer noch eine ungeklärte Frage. Seit etwa 1800 werten Studien der Mentalen Chronometrie den zeitlichen Verlauf geistiger Ereignisse aus. Diese Studien konzentrieren sich vor allem darauf, die unterschiedlichen Reaktionszeiten von Personen. Nämlich im Zusammenhang mit kognitiven Aufgaben von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad zu messen.

Fest steht: Es besteht keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen einem bestimmten Gefühl und einem Bereich des Gehirns. Giovanni Frazzetto erläutert: „Die gesamte jeweils mit einer Emotion verbundene Aktivität wird über Netzwerke von Regionen hinweg geteilt. Diese arbeiten parallel. Eine Region ist vielleicht hauptsächlich an einer bestimmten Emotion beteiligt, unterstützt aber gleichzeitig die Verarbeitung anderer und liegt ihnen zugrunde.“ In diesem Geflecht aus Netzwerken hat eine koordinierte Zeitdynamik weitreichende Priorität.

Emotionen verfügen über eine zeitliche Breite

Was zählt, ist nicht nur die Größenordnung einer Emotion. Sondern auch ihre zeitliche Breite oder wie lang es dauert, einen gewissen Grad ihrer Intensität zu erreichen oder zu verlieren. Das Gefühlsleben eines Menschen und seine sozialen Interaktionen entfalten sich in unterschiedlichen Zeitmaßstäben. Wenn man mit anderen interagiert, beobachtet man, nimmt wahr, schauspielert, erinnert sich, imitiert, teilt und vergisst. Möglicherweise nimmt man Gewohnheiten an, ändert sie oder legt sie ab.

Dinge passieren in Submillisekunden, Minuten, Stunden, Tagen oder Wochen. Sogar Monaten und Jahren. Von den Schwingungen neuronaler Wellen zu einem erhöhten Stromfluss von Nerv zu Nerv, vom Ausstoß neurochemischer Stoffe zur Beschleunigung der Atmung und von der Vermehrung von Neuronen zum epigenetischen „Tagging“ der DNA spielt sich die Physiologie des Zusammenseins in unterschiedlichen Geschwindigkeiten ab. Es dauert weniger als einen Augenblick, einen Gesichtsausdruck zu registrieren oder nachzuahmen. Quelle: „Nähe“ von Giovanni Frazzetto

Von Hans Klumbies

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