Das Selbst wächst in der Auseinandersetzung mit sich und der Welt
Es gibt Menschen, die nur wenig von dem, was sie eigentlich ausmacht, wissen. Dies erlebt man zunächst in der Form eines Mangels. Georg Milzner ergänzt: „Eines Mangels an innerer Vielfalt und eines Mangels an Authentizität. Diese gründet sich nämlich darauf, dass wir uns als Ganzheit wahrzunehmen vermögen.“ Wo immer die Identifikation mit nur einem Teilbereich an die Stelle der Ganzheit tritt – etwa dem beruflichen Erfolg, der Abstammung, den sexuellen Erfolgen, der künstlerischen Begabung, der Sportlichkeit o. Ä. – spricht man in der Psychologie von einer brüchigen Konstruktion. Und sobald ein Teilbereich, auf den sich dieses künstliche Selbst stützt, zusammenbricht, bricht gleich die ganze Person mit ein. Georg Milzner weiß: „Doch ein gelungenes Selbst umfasst mich mit allem, was ich bin.“ Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.
Ein Mensch besitzt nicht nur Schokoladenseiten
Was bedeutet, dass zum Selbst nicht nur die persönlichen Schokoladenseiten dazu zählen, sondern auch jene Züge, die man lieber nicht hätte. Die eigenen Ängste, die heimlichen Wünsche sowie das, was man sich erträumt. Georg Milzner erläutert: „Da nicht alle meine Ängste und nicht alle meine Wünsche immerfort gleich bleiben, manche Sehnsüchte Erfüllung finden und manche Sorgen sich irgendwann auflösen, so kann man sich vorstellen, dass das Selbst sich beständig verändert und durch die Auseinandersetzung mit sich und der Welt wächst.“
Diese Auseinandersetzung ist aber ohne Aufmerksamkeit für das eigene innere Geschehen nicht möglich. Man muss seine oberflächlichen und seine verborgenen Verhaltensweisen, seine Spannungen und seine Wünsche erst einmal wahrnehmen, um ihre Spannweite ermessen und sich so seelisch stärken zu können. Wer sich selbst nicht kennenlernt, vermag auch die anderen nicht wirklich kennenzulernen. Wo keine seelische Tiefenerfahrung ist, wo das Selbstgefühl fehlt, da besteht zu dem, was Begegnungen erlebnisintensiv macht, kein Zugang.
Dem künstlichen Selbst fehlt es an einem tiefen Selbstgefühl
Angesichts dieses Fehlens einer ganzen Persönlichkeit bildet sich das heraus, was Georg Milzner als „künstliches Selbst“ bezeichnen möchte. Unter dem künstlichen Selbst versteh er eine psychische Haltung, die – angesichts eines Mangels an Anteil nehmender Fremdaufmerksamkeit und, hieraus resultierend, einem tiefen fehlenden Selbstgefühl – an die Stelle des reifen, sich als Ganzheit empfindenden Selbst ein Surrogat setzt. Menschen, die ein künstliches Selbst entwickeln, haben gewöhnlich nicht erlebt, dass man sich wirklich für sie als Person interessiert.
Sie wurden vielleicht geliebt, das ja, und was ihnen gelang, erbrachte möglicherweise Applaus. Aber eine wirkliche Anteilnahme, eine Auseinandersetzung mit ihnen als werdender Persönlichkeit haben sie nicht erfahren. Georg Milzner erklärt: „Man kann hier gut sehen, dass die Basis des modernen Selbstverlusts nicht nur in der eigenen Überreiztheit liegt, sondern auch im Fehlen menschlicher Anteilnahme. Diejenigen, deren Eltern und Erzieher chronisch abgelenkt waren, haben oftmals Probleme damit, selbstaufmerksam zu sein.“ Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner
Von Hans Klumbies