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Das Ressentiment zehrt und bohrt

Max Scheler hat das Ressentiment 1912 in einem Essay mit großer Klarheit definiert. Er schreibt: „Es ist das wiederholte Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen […], durch die jene Emotion eine gesteigerte Vertiefung und Einsenkung in das Zentrum der Persönlichkeit sowie eine damit einhergehende Entfernung von der Ausdrucks- und Handlungszone der Person erhält.“ Der Schlüsselbegriff, um die Dynamik des Ressentiments zu verstehen, ist für Cynthia Fleury das wiederholte Durch- und Nachleben. Dabei handelt es sich ihrer Meinung nach um etwas, das durchgekaut und wiedergekäut wird, übrigens mit der charakteristischen Bitterkeit einer vom Kauen ausgelutschten Speise. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury ist unter anderem Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris.

Ursprünglich bezieht sich das Ressentiment auf eine Person

Das wiederholte Durch- und Nachleben ist selbst das eines anderen Durch- und Nachlebens. Dabei handelt es sich von Anfang an um das Wiedererleben einer emotionalen „Re-Aktion“. Diese mochte sich ursprünglich auf jemand Bestimmtes bezogen haben. Cynthia Fleury weiß: „Doch mit dem fortschreitenden Ressentiment nimmt die Unbestimmtheit der Adresse zu. Die Abscheu wird weniger persönlich und mehr global. Sie kann diverse Personen treffen, die zunächst nicht von der affektiven Reaktion betroffen waren, nun aber durch die Ausweitung des Phänomens erfasst werden.“

Von da an vollzieht sich eine Doppelbewegung. Je mehr das Ressentiment an Tiefe gewinnt, je mehr die Person in ihrem Innersten, ihrem Herzen davon beeinflusst ist, desto weniger bleibt ihre Handlungsfähigkeit erhalten. Und die Kreativität ihres Ausdrucks lässt nach. Das zehrt. Es bohrt. Und die Kompensation erweist sich mit jeder Wiederankurbelung des besagten Ressentiments unmöglicher, da das Bedürfnis nach Wiedergutmachung an diesem Punkt unstillbar ist.

Das Ressentiment umgibt eine Sphäre eines spitzen Stachels

Cynthia Fleury stellt fest: „Das Ressentiment führt uns auf den zweifellos illusorischen, aber dennoch sehr bitteren Weg der unmöglichen Wiedergutmachung, wenn nicht ihrer Ablehnung.“ Es ist offensichtlich, dass es unmögliche Wiedergutmachungen gibt, die zur Erfindung, zur Schöpfung, zur Sublimierung zwingen. Aber sich in das Ressentiment hineinzubegeben bedeutet, in die Sphäre eines spitzen Stachels einzudringen. Diese verhindert klare Projektionen oder vielmehr durch eine Umkehrung, wie durch eine umgekehrte Stigmatisierung, eine bestimmte Form des Genusses des Dunklen bestätigt.

Hier sieht Cynthia Fleury übrigens, dass eine mögliche Verwandtschaft mit dem Phänomen des Traumas besteht, dass einen „Durchbruch“ in der Psyche erzeugt. Es hat also ursprünglich eine Verletzung, einen Schlag, einer erste Unfähigkeit zur Vernarbung gegeben. Und der nicht verheilte Bruch macht später die Öffnung aktiver, manchmal akut, manchmal chronisch. Und gegenüber der Schwankung, die das wiederholte Durch- und Nachleben in Gang hält, bleibt die Arbeit des Intellekts, die Hilfe des Vernünftigen, hilflos. Quelle: „Hier liegt Bitterkeit begraben“ von Cynthia Fleury

Von Hans Klumbies

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