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Charakter und Moral prägen die Identität

Die meisten Menschen denken beim Begriff „Gedächtnis“ in der Regel an autobiographische Erinnerungen, an Erlebnisse und Episoden aus der Vergangenheit. Seit John Locke haben auch viele Philosophen diese Form des Gedächtnisses als das entscheidende Merkmal der personalen Identität angesehen. Philipp Hübl ergänzt: „Doch auch andere Fähigkeiten und Eigenschaften müssen im Gedächtnis gespeichert sein: das sprachlich verfasste Faktenwissen wie „Sizilien liegt am Mittelmeer“.“ Dazu zählt auch die Sprachfähigkeit, die die mentale Grammatik und das mentale Lexikon umfasst. Zum Beispiel nichtsprachliches Hintergrundwissen über die Beschaffenheit von Schnee, praktisches Können wie Klavier spielen oder Auto fahren, Wünsche oder Vorlieben, beispielsweise ob man lieber Arzt oder Architekt werden will, saure Gurken mag oder sich für den Expressionismus begeistert. Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.

Der Mensch besitzt unterschiedliche Gedächtnisarten

Außerdem sind im Gedächtnis Charaktereigenschaften gespeichert wie schüchtern, abenteuerlustig oder vorsichtig sowie moralische Einstellungen wie Ehrlichkeit, Egoismus oder Höflichkeit. Philipp Hübl erklärt: „Die Forschung geht davon aus, dass es sich dabei um unterschiedliche Gedächtnisarten handelt. Diese können sich unabhängig voneinander verändern oder sogar einzeln ausfallen.“ Die Psychologin Nina Strohminger und der Philosoph Shaun Nichols vermuten aufgrund ihrer Forschungsergebnisse, dass Charaktereigenschaften und vor allem die persönliche moralische Richtschnur einen Menschen in den Augen anderer zu dem machen, was er ist, und er deshalb so viel Wert darauf legt.

Ein Grund könnte darin liegen, dass Menschen ihr Sozialleben nach diesen Kriterien ausrichten. Sie möchten gerne Freund- oder Liebschaften mit denjenigen Menschen eingehen, die ähnliche moralische Standards haben wie sie selbst. Der amerikanischen Philosophen Sydney Shoemaker vertritt die folgende These. Der Charakter und die persönliche moralische Haltung machen den wichtigsten Teil der menschlichen Identität aus. Dazu kommt, dass jede Aktualisierung des Gedächtnisses im Bewusstsein eine subjektive Perspektive enthält.

Bewusstsein und Gedächtnis interagieren miteinander

Philipp Hübl erläutert: „Wir können uns zwar über alles irren, was uns passiert ist, aber niemals darüber, dass wir es sind, die sich irren.“ Personale Identität liegt Sydney Shoemaker zufolge in der psychischen Kontinuität des Gedächtnisses. Dieses umfasst neben Erlebnissen auch Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Neigungen und so weiter, die man sich ins Bewusstsein rufen kann. So wird auch klar, warum einige Forscher die Rollentheorie so ansprechend finden. Denn soziale Rollen haben oft etwas mit dem Charakter und den persönlichen moralischen Haltungen zu tun.

Doch als abgespeicherte Handlungs- und Erwartungsmuster machen sie eben nur einen Teil des menschlichen Gedächtnisses aus. Das Selbst hat zwei Aspekte: das Bewusstsein mit einer Ich-Perspektive und die Persönlichkeit, die sich aus Charakter, Neigungen, moralischen Haltungen und anderen Fähigkeiten zusammensetzt. Diese Verbindung zwischen beiden ist aber nicht zufällig, denn die eigene Persönlichkeit färbt die Art und Weise ein, wie man sein Bewusstsein erlebt. Der Strom momentaner bewusster Erlebnisse, ob wiederkehrend oder flüchtig, schießt im Flussbett fester Gedächtnisstrukturen dahin. Bewusstsein und Gedächtnis interagieren also über Rückkopplungsschleifen miteinander. Quelle: „Der Untergrund des Denkens“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies

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