Die Ehe soll vor Einsamkeit schützen
Die verbreitetste Form der Paarbildung bezeichnet Erich Fromm einen „égoisme à deux“, in dem zwei ichbezogene Personen eine Ehe oder eine Beziehung eingehen, nur um der Einsamkeit zu entkommen. So als wäre die Liebe eine umfassende Versicherungspolice, die beide Teile vor der unbeständigen Wirklichkeit, vor Verlust und Enttäuschung zu schützen vermag. Stuart Jeffries ergänzt: „Doch keiner der beiden Egoisten sei bereit, Arbeit zu investieren, um das zu erreichen, was Fromm als eine Beziehung aus der Mitte bezeichnet.“ Erich Fromm merkt an, sogar die Sprache der Liebe leiste dieser Lüge Vorschub: „Diese Auffassung, nichts sei einfacher als zu lieben, herrscht noch immer vor, trotz der geradezu überwältigenden Gegenbeweise.“ Stuart Jeffries arbeitete zwanzig Jahre für den „Guardian“, die „Financial Times“ und „Psychologies“.
In der erotischen Liebe gibt es keine Zärtlichkeit mehr
Marxistisch formuliert: Die Gesellschaft behandelte Liebe als Ware, statt zu realisieren, dass es eine Kunst war, für deren Beherrschung man Zeit, Geschick und Hingabe braucht. Auch der Geliebte wurde verdinglicht, er wurde zu einem Objekt, das bestimmten förderlichen Zwecken dient, und hörte auf, eine Person zu sein. Alle fünf Arten der Liebe, die Erich Fromm in „Die Kunst des Liebens“ anführt, wurde ähnlich defizient. Nächstenliebe dadurch, dass der Mensch zur Ware wurde.
Mutterliebe wurde ersetzt durch Narzissmus; Selbstliebe durch Egoismus; Gottesliebe durch Abgötterei und die erotische Liebe zeichnet sich durch die Abwesenheit von Zärtlichkeit aus. Der Tod der Zärtlichkeit in der erotischen Liebe, so Erich Fromms Vorwurf, gehe auf die Verweigerung, persönliche Verantwortung zu übernehmen zurück, auf Anspruchsdenken und die Tendenz, eher fordernd nach außen als nach innen zu blicken, in der Bereitschaft sich zu verpflichten. Stuart Jeffries betont: „Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass wir als Gesellschaft die Kunst des Liebens nicht gelernt haben.“
Die Liebe ist mit viel Arbeit und Risiko verbunden
Es spricht einiges dafür, dass viele Menschen die Liebe zugunsten von Sex abgeschafft haben, denn für antiromantische Kapitalisten ist Liebe mit zu viel Arbeit, Verpflichtung und Risiko verbunden. Erich Fromms Buch liest sich daher sechs Jahrzehnte nach seinem Erscheinen wie eine Herausforderung und Zurechtweisung. Die Gegenwart ist geprägt von Wegwerf-Lovern, in der ausgeklügelte sexuelle Lust die Unvorhersehbarkeit der Liebe verdrängt hat.
Heutzutage ist die Suche nach Liebe etwas Ähnliches geworden wie Shoppen, denn man verlangt von der Liebe das, was man auch von seinen anderen Einkäufen erwartet – Neuheit, Abwechslung, Verfügbarkeit. In „Liquid Love“ schreibt der Soziologe Zygmund Bauman, die moderne Gesellschaft habe es versäumt, sich die Lehren aus Erich Fromms Buch anzueignen: „Im Hinblick auf die Liebe sind Besitz, Macht, Verschmelzung und Ernüchterung die vier Reiter der Apokalypse.“ Quelle: „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries
Von Hans Klumbies