Trauer ist nicht dasselbe wie Melancholie
Welche Instanz ist überhaupt in der Lage, die schonungslose Gewalt eines Teils des Selbst gegen den anderen zu begrenzen? Sigmund Freud erkennt eine mögliche Einschränkung der Selbstzerstörung, nämlich dann, „wenn das Ich sich nicht vorher durch den Umschlag in Manie seines Tyrannen erwehrt“. Judith Butler weiß: „Er verweist hier auf seine Abhandlung „Trauer und Melancholie“ (1917), wo er unterscheidet zwischen „Trauer“ mit wacher Einsicht in die Realität des Verlustes eines Menschen oder eines Ideals auf der einen Seite und „Melancholie“, die die Realität dieses Verlustes nicht anerkennt, auf der anderen.“ In der Melancholie wird der verlorene andere als Teil des Ichs internalisiert und in der Folge wird in der Psyche durch gesteigerte Selbstvorwürfe der Bezug des Ich zum verlorenen anderen wiederholt und ins Gegenteil verkehrt. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.
Die Melancholie besteht aus zwei gegensätzlichen Neigungen
Judith Butler ergänzt: „Der Vorwurf gegenüber der verlorenen Person oder dem verlorenen Ideal wendet sich gegen das Ich selbst. Damit wird der Bezug als lebendiger innerpsychischer Bezug bewahrt.“ Auch in dieser Abhandlung stellt Sigmund Freud klar, dass die entfesselte Feindseligkeit gegen das Ich potenziell tödlich ist. Der Schauplatz der melancholischen Selbstherabsetzung wird damit zum Modell für die spätere Topografie von Über-Ich und Ich. Die Melancholie besteht aus zwei gegensätzlichen Neigungen.
Nämlich erstens aus der Selbstbeschimpfung, die zur Hauptaktivität des „Gewissens“ wird, und zweitens aus der „Manie“, welche die Bindung an das verlorene Objekt kappen will und sich aktiv vom verlorenen Objekt lossagt. Judith Butler erläutert: „Die Manie mit ihren lebhaften Anklagen des Liebesobjekts und die gesteigerten Anstrengungen des Ich, die Bindung zum verlorenen Liebesobjekt oder Ideal abzubrechen, implizieren den Wunsch, den Verlust zu überleben und das eigene Leben nicht von ihm verschlingen zu lassen.“
Nur zu oft führt der Weg von der Melancholie zum Über-Ich
Die Manie ist gleichsam der Protest des lebenden Organismus gegen eine mögliche Zerstörung durch ein entfesseltes Über-Ich. Judith Butler fügt hinzu: „Schreibt sich im Über-Ich also der Todestrieb fort, widersetzt sich die Manie der gegen die Welt und das Selbst gerichteten Destruktivität. Die Manie sucht nach einem Ausweg aus dem Teufelskreis von Destruktivität und Gegen-Destruktivität.“ Nur zu oft führt der Weg von der Melancholie zum Über-Ich.
Aber die Gegentendenz, die Manie, eröffnet vielleicht andere Möglichkeiten des Widerstands gegen die Zerstörung. Judith Butler erklärt: „Die manische Kraft, die den Tyrannen bezwingen will, ist in gewisser Weise die Macht des Organismus zur Durchbrechung der Bande, die mutmaßlich der Identifizierung dienen.“ Der Organismus selbst ist schon ein Schwellenbegriff zwischen Somatischem und Seelischem und seine Aktivität daher kein bloß naturalistisches Aufbäumen des rebellischen Lebens. Quelle: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ von Judith Butler
Von Hans Klumbies