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Die Sucht greift den Selbstwert an

Kränkungen resultieren aus den direkten und indirekten Folgen der Sucht, aus Zurechtweisungen und Vorwürfen, aus Streit in der Partnerschaft und Ermahnung am Arbeitsplatz, aus Führerscheinentzug und Kündigung. Reinhard Haller weiß: „Sucht greift den Selbstwert an, durch die nicht mehr unterdrückbaren Entzugserscheinungen und Gesundheitsschäden, durch das Gefühl des Versagens, besonders aber durch die Verdrängung.“ Keine andere Krankheit wird derart bagatellisiert und verleugnet wie die Sucht. Solange sich Menschen im Suchtprozess befinden, entwickeln sie ein Gebäude aus Begründungen, Rechtfertigungen, Relativierungen und Verleugnungen. Damit wehren sie sich gegen die kränkende Stigmatisierung der Sucht und wollen mit geradezu advokatischer Spitzfindigkeit verhindern, dass ihnen das weggenommen wird, was ihnen im Leben am wichtigsten geworden ist: das Suchtmittel. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).

Die allergrößte Kränkung liegt in der Selbsttäuschung

Die Reaktionen der Umgebung gegen diese „Uneinsichtigkeit, Sturheit und Willenlosigkeit“ werden direkter, schärfer und kränkender. Reinhard Haller stellt fest: „Die Gefahr der Bloßstellung durch Niederreißen der Verdrängung ist nicht zu unterschätzen. Geschieht dies in der Therapie allzu radikal, steht der Süchtige hilflos und beschämt da und erfährt neue Kränkungen.“ Die allergrößte Kränkung liegt aber in der Selbsttäuschung, im Eingestehen, dass er an seine eigenen Rechtfertigungen und Begründungen geglaubt hat.

Jener Moment, in dem der Süchtige ernüchtert erkennen muss, wie dominant seine Sucht geworden ist und wie schwerwiegend sie in sein Leben eingegriffen hat, gehört zweifelsohne zum Bittersten im Verlauf einer Suchtkarriere. Reinhard Haller erläutert: „Sucht und Kränkung können gemeinsame Ursachen haben und sich gegenseitig bedingen. Der wesentliche Ursprung beider Störungen liegt wohl im fehlenden oder reduzierten Selbstwertgefühl.“

Heilsubstanzen können das Problem nicht wirklich lösen

Selbstwert ist ja jene psychische Kategorie, an welcher Kränkungen ansetzen und welche Gekränktheit zulässt. Reinhard Haller ergänzt: „Selbstwertzweifel sind aber auch eine wesentliche Ursache für Missbrauch und Abhängigkeit von berauschenden Substanzen, da dieser vorübergehend Gefühle der Größe, Macht und Einzigartigkeit spenden können.“ Jede Therapie, die den durch Kränkungen oder Sucht unfrei gewordenen Menschen in seinen ganzheitlichen Bezügen betrachtet, muss ganz stark auf die Stärkung seines Selbstwerts fokussieren.

Reinhard Haller betont: „Bei all dem ist zu beachten, dass alle Drogen unter anderem auch Heilmittel und therapeutisch wirkende Substanzen sind. Cannabis hat entspannende, schmerzlindernde und beruhigende Effekte. Kokain ist ein gutes Antidepressivum und Opiate sind die wirksamsten Schmerzmittel überhaupt.“ Die vielfältigen psychotropen Wirkungen des Alkohols, besonders der euphorisierende und damit antidepressive Effekt, ist jedem bekannt. Leider entfalten diese uralten Heilsubstanzen ihre positive psychopharmakologische Wirkung bloß für kurze Zeit, ohne das eigentliche Problem – die Depression, die Angst, die Kränkung – wirklich lösen zu können. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller

Von Hans Klumbies

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