Erotische Liebe entfaltet eine extreme Lust
Auffällig an Sigmund Freuds Psychoanalyse ist für Peter Trawny ein offenbar fehlendes Verständnis der Liebe diesseits oder jenseits des Eros als „Triebbefriedigung“. Gibt es eine Psychoanalyse der Liebe, die sich nicht in genitaler Sexualität verdichtet? Anders gesagt: Sigmund Freuds Kulturtheorie wirft die Frage auf, ob und inwiefern es sinnvoll ist, Liebe von genitaler Sexualität zu unterscheiden. Denn dass etwas wie Liebe von Sexualität unterschieden werden kann, mag möglich sein. Doch müsste sie dann auf die Sexualität zurückgeführt werden, als eine ihrer Sublimierungen? Sigmund Freud kommt im „Unbehagen in der Kultur“ auch auf die Nächstenliebe zu sprechen. Sie wird ausdrücklich zurückgewiesen: „Wenn ich einen anderen liebe, muss er es auf irgendeine Art verdienen.“ Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
Das Christentum ächtet die Geschlechtsliebe als Sünde
Peter Trawny stellt fest: „Bemerkenswert, dass Freud eine ökonomische Sprache zu pflegen beginnt, wenn er Liebe nicht mit genitaler Sexualität verbindet. Andererseits scheint es genau diese Ökonomie zu sein, die eine solche Liebe mit Triebbefriedigung teilt.“ Doch es geht nicht darum, gegen Sigmund Freud die Nächstenliebe aufzuwerten. Vielmehr ist die Frage, ob Freud mit diesen ökonomischen Kriterien der Liebe überzeugend erfasst. Sigmund Freud hat zunächst recht. Im europäischen Geistesleben wurde niemals gelöste Sexualität propagiert.
Liest man Philosophen wie Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer oder Friedrich Nietzsche, dann wir der Beischlaf nie als Quelle des Genusses, sondern lediglich als Fortpflanzungsmittel verstanden. Peter Trawny fügt hinzu: „Das gilt ebenso für das Christentum, in dem die Geschlechtsliebe als Sünde geächtet wurde, die als Übel in der Fortpflanzung weiter vererbt wird.“ Recht hat Sigmund Freud natürlich auch damit, dass der Vollzug der erotischen Liebe eine unvergleichliche Lust entfalten kann.
Ein intensives Sexualleben macht glücklich
Es ist laut Peter Trawny nicht falsch, ein intensives Sexualleben glücklich zu nennen. Ja, man muss Sigmund Freud darin zustimmen, dass eine Liebesbeziehung ohne jede Sexualität nicht glücklich genannt werden kann, wenn sie überhaupt Liebesbeziehung genannt werden könnte. Gewiss hat das Leben in dieser Hinsicht eine natürliche Neigung, ganz abwesend ist die Sexualität im Leben nie. Zu fragen ist aber, ob schon jede bloße Sexualität Liebe genannt werden kann, falls nicht, was das bedeutet.
Allerdings droht an dieser Stelle eine bekannte Gefahr. Denn die Sexualität von einer über sie hinausgehenden Liebe abhängig zu machen, erinnert an die Heuchelei alter Betschwestern. Danach schläft man nur mit jemandem, den man auch heiratet. Sigmund Freud hatte allen Grund, diese Moral für lächerlich zu halten. Dennoch wirft die Nicht-Identität von Liebe und genitaler Sexualität die Frage nach ihrem Verhältnis auf. Kann man nur mit dem lustvoll kopulieren, den man liebt? Oder kann man nur die lieben, mit der ich sexuell intensiv interagiere. Quelle: „Philosophie der Liebe“ von Peter Trawny
Von Hans Klumbies