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Irrationalität erfreut sich großer Beliebtheit

Es scheint, dass Menschen recht anfällig sind für irrationale Überzeugungen. Aber was heißt hier eigentlich anfällig? Philipp Sterzer antwortet: „Vielleicht sollten wir das gar nicht so werten, sondern lieber von einer Neigung sprechen. Rationales Denken mag ein Ideal aufgeklärter, wissenschaftsgeprägter westlicher Gesellschaften sein, aber es ist offenbar nicht der normale Standard.“ Irrationale Überzeugungen erfreuen sich großer Beliebtheit. Zum Teil ist das sicher ein bewusstes Bekenntnis zur Irrationalität, die für viele vielleicht ein attraktives Gegenmodell zur kühlen und trockenen Vernunft darstellt. Vor allem religiöser Glaube schöpft vermutlich sogar seine besondere Überzeugungskraft daraus, dass er nicht rational begründbar ist. Im Jahr 2011 berief man Philipp Sterzer zum Professor für Psychiatrie und computationale Neurowissenschaften an die Charité in Berlin. 2022 wechselte er an die Universität Basel.

Blinde Flecken sind schwer zu entlarven

Irrationalität als Gegenentwurf zur Rationalität ist aber nur ein Teil der Geschichte. Den anderen Teil illustrieren Verschwörungstheorien. Den Vorwurf der Irrationalität würden die meisten Verschwörungsgläubigen entschieden von sich weisen. Philipp Sterzer ergänzt: „Im Gegenteil, sie würden – angesichts den in ihren Augen erdrückenden Beweise für ihre Verschwörungstheorie – die tumbe Schafherde derer, die auf die billigen Theorien der offiziellen Meinungsmacher hereinfallen, nicht nur der Naivität, sondern auch der Irrationalität bezichtigen.

Verschwörungstheoretische Ideen sind ihrem Wesen nach epistemisch irrational. Philipp Sterzer erklärt: „Sie nutzen geradezu unseren blinden Fleck für die eigene Irrationalität aus. Und dieser blinde Fleck ist größer als wir denken. Es gehört zum Wesen von blinden Flecken, dass man sich weder ihrer Existenz noch ihrer Größe bewusst ist.“ Man sieht nicht, dass man nichts sieht. Introspektion und Selbstreflexion sind daher in der Regel nicht geeignet, solche blinden Flecken zu entlarven.

Das visuelle System füllt die fehlenden Informationen gleichsam auf

Nun beschäftigt sich Philipp Sterzer seit vielen Jahren als Wissenschaftler mit visueller Wahrnehmung und hat das schon Hunderte Male an ihm selbst ausprobiert. Er hatte sogar mal eine – wie er fand – geniale Idee für ein Experiment zur Erforschung dieses Phänomens, musste aber dann feststellen, dass andere schon in den 1960er-Jahren genauso genial gewesen waren. Trotz dieser Kränkung seines Wissenschaftleregos ist Philipp Sterzer nach wie vor jedes Mal aufs Neue davon fasziniert, wie blind wir für unsere blinden Flecken sind.

Das liegt an einem Phänomen, das als „Filling-in“ bekannt ist. Philipp Sterzer erläutert: „Unser visuelles System füllt die fehlenden Informationen gleichsam auf. Man könnte meinen, dass dieses Auffüllen einfach jeweils vom anderen Auge erledigt wird.“ Die blinden Flecken der beiden Augen liegen ja an unterschiedlichen Stellen, sodass ein Auge den Job an den Stellen übernehmen kann, an denen das andere Auge blind ist. Bei zweiäugigem – binokularem – Sehen ist das tatsächlich so. Solche blinden Flecken und entsprechende Auffüllmechanismen gibt es auch im menschlichen Denken. Quelle: „Die Illusion der Vernunft“ von Philipp Sterzer

Von Hans Klumbies

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