Liebesentzug führt zu Kränkungen
Blickt man auf den psychologischen Hintergrund des destruktiven Charakters von Kränkungen, handelt es sich immer um Liebesentzug oder Liebeszurückweisung. Leidet ein Kind unter Liebesmangel, unter fehlender Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit seiner Bezugspersonen, reagiert es irritiert und letztlich gekränkt. Reinhard Haller fügt hinzu: „Die menschliche Urangst, zu wenig geliebt zu sein, führt zu erhöhtem Verlangen nach positiver Reaktion und zu anhaltender Verunsicherung in diesem Bereich. Auch nach der Kindheit, während des ganzen Lebens.“ Umgekehrt können sich Kränkungen auch aus zurückgewiesener Liebe entwickeln. Findet das Bedürfnis nach positiver Zuwendung keinen Abnehmer, ist dies genauso kränkend. Davon ist das Leben voll, so bei nicht erwiderter Liebe, bei abschlägiger Beantwortung einer Stellenbewerbung, bei ausbleibendem Verkaufserfolg oder negativer Kritik. Reinhard Haller ist Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik mit dem Schwerpunkt Abhängigkeitserkrankungen.
Kränkungen können nur an sensiblen Stellen andocken
Überall findet das Positivpotential keinen Abnehmer. Begeisterung und Idealismus erhalten keine emotionale Antwort. Anstrengung und Mühe beachtet man nicht. Wie kränkend ist die Zurückweisung eines vor Liebe überquellenden Herzens. Ebenso die abschlägige Beantwortung einer Stellenbewerbung trotz bester Qualifikation. Oder die oft so harte Kritik an künstlerischen Darbietungen, versagte Applaus sowie der ungerechte Lohn. In all diesen Fällen erkennt man den Versuch, etwas Positives einzubringen, angenommen und akzeptiert zu sein, etwas Gutes zu tun.
Reinhard Haller erklärt: „Besonders schmerzhaft sind Zurückweisungen im Beziehungsbereich, sei es das Gefühl der frühen Ablehnung durch Vater und Mutter oder sei es die resonanzlos gebliebene Verliebtheit.“ Wenn man Liebe als Positivresonanz definiert, kann man Kränkung als emotionale Negativantwort bezeichnen. Im großen Stil müssen diese Erfahrungen heute besonders Emigranten und Flüchtlinge machen. Um tatsächlich eine Wirkung zu entfalten, müssen Kränkungen eine sensible Stelle treffen. Nur an solchen können sie überhaupt andocken.
„Reinszenierungen“ sind besonders schmerzhaft
Das müssen nicht unbedingt die berühmten wunden Punkte sein, sondern durchaus Bereiche, die positiv besetzt sind. Es geht um all das, was für einen Menschen von besonderer Wichtigkeit ist, mit dem er sich lange und intensiv auseinandergesetzt hat, was für ihn einen hohen emotionalen Wert hat. Oft sind es Narben, die wieder aufbrechen, manchmal scherzhafte Erinnerungen, an die gerührt wird. Sehr oft handelt es sich um schlimme Erfahrungen, die man wieder und wieder machen muss.
Wenn jemand unter dem Gefühl leidet, während des ganzen Lebens benachteiligt worden zu sein, kann eine unvermeidliche Zurücksetzung im Kleinen als sehr kränkend erlebt werden. Hat jemand schon früher öfter als zweiter Sieger das Feld räumen müssen, wird jeder auch noch so unbedeutende Vergleich mit anderen zum Kampf gegen eine beschämende Niederlage. Besonders eindrucksvoll sin die sogenannten „Reinszenierungen“, bei denen eine aktuelle Situation schmerzhaft an belastende Begebenheiten vor Jahren erinnert. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller
Von Hans Klumbies