Allgemein 

Das Selbst ist ein lebendiger Akteur

Kurz nach der Geburt ist das Selbst eines Menschen noch nicht vorhanden. Es ist noch im Körpergefühl des Kindes verborgen. Joachim Bauer erklärt: „Erst mit der postnatal voranschreitenden biologischen Reifung des Stirnhirns kommt es zur Abspeicherung erster Eindrücke eines Selbst.“ Das menschliche Selbst ist nicht auf seine rezeptiven Eigenschaften beschränkt. Es entwickelt sich – im wahrsten Sinne des Wortes von Kindesbeinen an – auch zu einem lebendigen Akteur. Kaum ist es in seinen Grundstrukturen etabliert, beginnt es, seine Wahrnehmung und an die eigene Person herangetragene Angebote zu bewerten. Es geht auf die Welt zu, entwickelt Vorlieben, erprobt Möglichkeiten, es selektiert und verwirft. Das menschliche Selbst kann sich und die Welt jedoch nicht neu erfinden. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

Das menschliche Selbst gleicht der Atmung

Alle Aktionen des menschlichen Selbst fußen ausnahmslos auf dem, was es bereits in sich trägt und in seiner Umwelt vorfindet. Die dem Menschen gegebene Möglichkeit, kreativer Akteur zu sein, setzt immer und überall etwas ihm Angebotenes voraus. Erst auf dem Boden dessen, was einem Menschen angeboten, geschenkt, verweigert oder abverlangt wurde, kann er sich zu einem Akteur entwickeln. Joachim Bauer erläutert: „Das Selbst als Komposition internalisierter Elemente steht in einem dialektischen Verhältnis zum Selbst als Akteur.“

Erst aus der Fülle der vertikalen und horizontalen Transfers der Selbst-Elemente anderer Menschen, ergeben sich die gewaltigen Spielräume menschlicher Kreativität. Das menschliche Selbst gleicht der Atmung: Es befindet sich in ständigem Wechsel zwischen Ein- und Ausatmung. In der Biologie sind der vertikale und der horizontale Austausch von Selbstelementen eines der ältesten Prinzipien der Evolution. In der frühen Phase der Erdgeschichte beschränkte sich das Leben auf einzellige, im Urmeer schwimmende Lebewesen.

Das Immunsystem verteidigt die eigene Unversehrtheit

Sie bestanden aus einer Komposition aus genetischen Elementen, sie sie aufnahmen und wieder abgaben. Den damals zwischen Einzellern praktizierten wechselseitigen Austausch bezeichnet man als „horizontalen Gentransfer“. Das damals im Urmeer vorhandene Leben war ein einziger genetischer Flohmarkt. Die Evolution schien auszuprobieren, was zusammenpasst. Erst in einer späteren Phase der Erdgeschichte, als Lebewesen begannen, ihre Identität zu schützen und Immunsysteme zu entwickeln, schränkte die Evolution dieses muntere Markttreiben ein.

Ähnlich dem Immunsystem hat auch das Selbst-System Instrumente zur Verteidigung seiner Identität entwickelt. Man bezeichnet sie als psychische Abwehrmechanismen. Beide – Immunsystem und Abwehrmechanismen – dienen der Verteidigung der eigenen Unversehrtheit. Sie können, wenn sie mit schädlichen Eindringlichen nicht fertige werden, aber auch zum Ausgangspunkt von Krankheiten werden. Als Beispiele nennt Joachim Bauer chronische Entzündungen oder Neurosen. Horizontale Gentransfers finden übrigens – wie die Transfers von Selbst-Elementen – weiterhin statt. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer

Von Hans Klumbies

Related posts

Leave a Comment