Der Begriff „Familie“ ist out
Paul Verhaeghe setzt den Begriff „Familie“ in Anführungszeichen, um damit zu zeigen, dass dieses Wort kaum noch seine traditionelle Bedeutung besitzt. In der Vergangenheit offenbarte der Blick auf die Familie häufig einen leicht gelangweilten Vater, eine stolze Mutter und einige Kinder. Heute ist die traditionelle Familie im Aussterben begriffen. Patchwork-Familien aller Art und Alleinerziehende dominieren das Geschehen. Außerdem ist die Scheidungsrate extrem hoch und man schließt immer weniger Ehen. Das hat verschiedene Gründe, die zu einem großen Teil mit dem Schwinden des Patriarchats und der dazugehörigen verpflichtenden Erwartungen zu tun haben. Früher war man schon fast zur Heirat verpflichtet. Kinderlos zu bleiben war eine Katastrophe oder galt als höchst verdächtig. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Eine lange Beziehung ist tödlich für die Leidenschaft
In früheren Zeiten heiratete ein Mann, um moralisch einwandfreien Zugang zu Sex zu bekommen. Und er bekam als Zugabe noch eine Haushälterin dazu. Frauen heirateten in der Hoffnung auf Kinder und einen guten Versorger. In der Vergangenheit hing der Erfolg einer Frau oft davon ab, welchen Mann sie heiratete. Paul Verhaeghe kennt die Veränderungen, die seit damals eingetreten sind: „Heute wollen oft die Männer Kinder haben, und Sex ist eher ein Scheidungsgrund als ein Grund für eine Eheschließung.“
Das Zusammenspiel zwischen ihrer erotischen und ihrer elterlichen Rolle ist bei Vätern und Müttern nicht einfach. Und eine langjährige Beziehung ist tödlich für die Leidenschaft. Verglichen mit früher genießen die Menschen eine wesentlich größere sexuelle Freiheit – besonders die Frauen. Und obwohl Menschen biologisch gesehen ganz klar nicht monogam sind, erwarten die meisten wider besseres Wissen von ihrem Partner Treue. Dadurch ist eine neue Doppelmoral entstanden, bei der auch Frauen häufig mehr als eine Beziehung zugleich haben. Sie können jedoch dasselbe Verhalten bei ihrem Partner nur schwer ertragen.
Autorität ist kein Synonym für Macht oder Gewalt
Das Patriarchat funktioniert aufgrund einer typischen Pyramidenstruktur. Das Militär und die Kirche gelten dafür als Musterbeispiele. Weibliche Pendants gibt es kaum. Auch daran kann man erkennen, dass eine solche Struktur bei Frauengruppen weniger häufiger vorkommt. Nun, da das Patriarchat auf dem Rückzug ist und immer mehr besser ausgebildete Frauen Führungspositionen übernehmen, träumen manche von einer sanfteren, von Frauen dominierten Gesellschaft. Diese basiert auf angeblich typisch weiblichen Eigenschaften wie Empathie, Streben nach Einvernehmen und langfristigem Denken.
Autorität ist für Paul Verhaeghe kein Synonym für Macht, geschweige denn für Gewalt. Autorität hat mit Zwang zu tun, im Idealfall ein Zwang, der von innen heraus funktioniert. Notfalls muss dieser Zwang auch von außen auferlegt werden durch eine Instanz, die dazu autorisiert ist und eventuell Gewalt gebrauchen darf. Ein Gesetz muss durchgesetzt werden können, sonst wird es nicht ernst genommen. Das wusste schon Blaise Pascal: „Das Recht ohne Gewalt ist unvermögend, die Macht ohne das Recht ist tyrannisch.“ Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies