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Das Stockholm-Syndrom kann jeden treffen

Evolutionspsychologen neigen dazu, das Stockholm-Syndrom als Verhaltensphänomen zu betrachten, das sich in der früheren Geschichte der Menschheit herausbildete. Die Standarderklärung für die Ursprünge dieses Verhaltens lautet folgendermaßen: In frühen Gesellschaften der Jäger und Sammler kämpften einzelne Stämme gegeneinander um einen beschränkten Bestand an Nahrung, was häufig zu Konflikten zwischen einzelnen Clans führte. Eyal Winter ergänzt: „Dabei kam es nicht selten vor, dass Männer weibliche Mitglieder rivalisierender Stämme entführten. Die natürliche Selektion begünstigte Frauen, die sich in das neue gesellschaftliche Umfeld integrierten; sie überlebten und gebaren ihren Entführern sogar Kinder.“ Frauen, die sich emotional nicht mit ihren Kidnappern identifizieren konnten, überlebten gewöhnlich nicht, und selbst wenn sie ihr Los ertrugen, hatten sie meist keine Nachkommen. Eyal Winter ist Professor für Ökonomie und Leiter des Zentrums für Rationalität an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

Untergebene tolerieren oft die Schikanen der Chefs

Eyal Winter hält diese Erklärung für nicht vollkommen befriedigend. Erstens betrifft das Stockholm-Syndrom Frauen und Männer gleichermaßen. Zweitens ist die evolutionsbezogene Erklärung viel zu eng und begrenzt, verglichen mit den vielfältigen Ausdrucksformen des Syndroms. Eyal Winter erklärt: „Das Stockholm-Syndrom ist lediglich die extremste Manifestation, an dem wir alle bis zu einem gewissen Grad leiden. In Beziehungen zu Autoritätspersonen neigen wir dazu, positive Gefühle zu diesen zu entwickeln.“

Menschen halten häufig an diesen positiven Emotionen fest, selbst wenn sie seitens jener, die Macht über sie haben, ungerecht oder verletzend behandelt werden. Je weniger sie imstande sind, ihre Lage zu ändern, desto stärker bekunden sie positive Gefühle gegenüber der Autoritätsperson. Manchmal geben sie sich selbst die Schuld für Übergriffe. Ein bekanntes Beispiel ist, dass sich misshandelte Frauen nicht von ihren gewalttägigen Männern trennen. Ein anderes Exempel sind unerträgliche Vorgesetzte, deren Schikanen die Untergebenen in unerklärlicher Weise tolerieren.

Unterdrückung der Wut erhöht die Überlebenschancen

Es geht Eyal Winter nicht um Situationen, in denen sich ein Mensch vollkommen bewusst ist, dass er gedemütigt wird. In einem solchen Fall reißt er sich aus taktischen Gründen zusammen. Denn ihm ist klar, dass die Bekundung von Unmut kontraproduktiv wäre. Es geht ihm um Fälle, in denen ein Mensch für gefährliche Individuen eine perverse Sympathie empfindet oder deren Handlungen vollkommen ignoriert, bloß weil die Betreffenden eine Autoritätsstellung innehaben. Wenn die Machtverhältnisse besonders ungünstig für einen Menschen sind wirkt der persönliche emotionale Mechanismus in vielen Fällen mit dem kognitiven Mechanismus zusammen, um Gefühle wie Empörung oder Wut zu unterdrücken.

Eyal Winter erläutert: „Dies ist rationales emotionales Verhalten, das in der richtigen Dosierung unsere Überlebenschancen erhöhen kann. In extremen Situationen – etwa bei misshandelten Frauen – kann eben dieses Verhaltensmuster für die Betroffenen jedoch ausgesprochen nachteilig sein.“ Der emotionale Mechanismus übersteigert auch das Maß, in dem man Autoritätspersonen gegenüber Dankbarkeit für kleine und unbedeutende positive Gesten empfindet. Hierin liegt unter anderem das Erfolgsgeheimnis der Verhörmethode in den Rollen „guter Bulle, böser Bulle“. Quelle: „Kluge Gefühle“ von Eyal Winter

Von Hans Klumbies

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