Beim Gefühl der Scham spaltet sich das Ich in zwei Teile
Im Augenblick der Scham sieht sich der Mensch plötzlich selbst, er spaltet sich auf in ein handelndes und in ein beurteilendes Ich. Eine Handlung oder ein Unterlassen geht dem Urteil logisch voraus, doch die Zeitspanne zwischen beiden Vorgängen ist in der Regel so kurz, dass sie im Empfinden ineinanderfließen. Ulrich Greiner erläutert: „Das andere, das missbilligende Ich kann sein Urteil nach verschiedenen Maßstäben fällen, nach solchen des Comments oder des Gewissens, in jedem Fall sieht sich das sozusagen kleinere Ich von einem größeren, das als Agent des Allgemeinen fungiert, missgünstig bloßgestellt.“ Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.
Selbst bei völliger Schuldlosigkeit kann die Scham auftreten
Diese blitzartige, gewaltsame Aufspaltung geschieht jedes Mal, wenn sich ein Mensch schämt. Auch das Gefühl vor Scham sterben zu müssen, ist n kann, an dem man völlig schuldlos ist.
Dr. Hilge Landweer vom Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin erklärt: „Scham lässt sich dadurch charakterisieren, dass man mit dem Schamgefühl selbst – allein dadurch, dass man es hat – anerkennt, sich im weitesten Sinne falsch verhalten zu haben.“ Die Beschämung kann im Beschämten, die Demütigung im Gedemütigten das Gefühl erzeugen, er habe es sich selbst zuzuschreiben. Da ja nun sein körperliches Vorhandensein die notwendige Bedingung, vielleicht sogar die Ursache der Beschämung oder Demütigung war, kann er sich von dem Gefühl nicht lösen, er sei mitschuldig.
In der heutigen Gesellschaft besteht ein Schamtabu
Der Mensch sieht sich dann in die Enge getrieben und erfährt, wie Georg Simmel es ausdrückt, eine „Herabdrückung des Ichgefühles“. Aus dieser Gefangenschaft kann sich ein Mensch nur durch einen Ausbruch befreien, beispielsweise durch zornige Gegenwehr, im Sinne von Schlag und Gegenschlag. Dazu muss er aber über ein Mindestmaß an Machtressourcen verfügen. Wer dagegen in jeder Hinsicht abhängig ist, muss die Demütigungen mit sich allein ausmachen. Die Selbstachtung sinkt dann teilweise so sehr, dass man sich schon bei der bloßen Vorstellung schämt, es könnte ein Verdacht auf einen fallen, und wäre er noch so unberechtigt.
Fast alle Menschen fürchten unangenehme Gefühle. Ulrich Greiner defi.
Von Hans Klumbies