Ulrich Greiner beschreibt die außergewöhnliche Macht der Blicke
Fast jeder Mensch kennt auf irgendeine Art und Weise die große Macht der Blicke. Im schönsten Fall enthüllt sich in ihnen eine jäh erwachte Liebe, und es mag gut sein, dass in einem solchen Gewitter der Gefühle auch eine Spur von Scham mitschwingt, verbunden mit einem Erröten der Wangen, weil das Geständnis der Liebe über den Weg der Blicke unweigerlich mit einer seelischen Entblößung verbunden ist, einer Offenbarung aber, die sich zugleich im Blick des Gegenüber beschützt und aufgehoben fühlt. Ulrich Greiner fügt hinzu: „Es ist, als ob die Blicke aufeinander zustürzten, und das englische „falling in love“ drückt etwas davon aus.“ Gefühle wie Scham und Peinlichkeit stellen sich in der Regel erst dann ein, wenn sich im traurigsten Fall herausstellt, dass diese Liebe des ersten Augenblicks auf einem Missverständnis beruht.
Eine neue Spezies der Blicklosen schaltet seine Sinnesorgane aus
Im widrigsten Fall kann der Blick eine mit Hass, ja sogar mit Gewalt verbundene Macht ausstrahlen, die Unterwerfung fordert, und mit Demütigung, Bloßstellung und Beschämung arbeitet. Zunächst hält Ulrich Greiner aber fest, dass sich die Macht der Blicke im alltäglichen Umgang weit went, das dazu benutzt werden kann, den sozialen Verkehr möglichst reibungslos zu gestalten.“ In der demokratischen Gesellschaft ist die Macht des herablassenden, abschätzigen Blicks, der sich auf Geld oder Geblüt beruft, schwächer geworden, doch keineswegs verschwunden. Ulrich Greiner ergänzt: „Wer länger blicken kann als sein Gegenüber, demonstriert einen Herrschaftsanspruch, der demütigend sein kann.“
Seit einiger Zeit fällt Ulrich Greiner eine neue Spezies der Blicklosen auf. Es sind jene, die den Stöpsel ihres Mobiltelefons oder Musikplayers im Ohr, den Empfang ihrer Sinnesorgane einstweilen eingestellt haben. Aus Verletzungen oder Überschreitungen einer jeweils angemessen empfundenen Blickdauer folgen Beschämung oder Peinlichkeit. Oft sind dies nur kleine Verschiebungen und keineswegs dramatische Manöver. Und doch können sie laut Ulrich Greiner den Charakter der Diffamierung und des Ausgrenzens annehmen. Noch komplexer wird die Angelegenheit, wenn man sich vergegenwärtigt, wie streng die meisten Menschen die Grenze zwischen ihrem eigenen Körper und der sie umgebenden Außenwelt ziehen.
Von Hans Klumbies