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Mikroaggression breitet sich immer mehr aus

Wenn in den Neunzigerjahren ein Lehrer einen Schüler schlug, verurteilte man das einhellig als „Aggression“. Heute kann es schon als „Mikroaggression“ gewertet werden, wenn ein Lehrer lediglich übersieht, dass sich ein Schüler meldet. Philipp Hübl ergänzt: „Zählten früher ausschließlich körperliche Angriffe als Gewalt, werden heute auch Beleidigungen oder Witze als verbale Gewalt klassifiziert. Dass Beleidigungen für sich genommen moralisch falsch sind, steht außer Frage, doch sind nun eben in die Gewaltkategorie gerutscht.“ „Missbrauch“ bezeichnete einst körperliche Gewalt oder sexuelle Nötigung, inzwischen kann auch Vernachlässigung als „Missbrauch“ zählen. Natürlich ist Vernachlässigung ebenfalls moralisch falsch, und man kann auch ein Nicht-Tun verantwortlich sein, beispielsweise für unterlassene Hilfeleistung. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Heute wird sogar schon ein negatives Gefühl als „Trauma“ bezeichnet

Doch wenn man Tatenlosigkeit als „Missbrauch“ klassifiziert, erweitert man einen ursprünglich aktiven Handlungsbegriff. Besonders offensichtlich liegt der Fall bei „Trauma“. Philipp Hübl erläutert: „Zuerst war damit eine Verletzung des Körpers gemeint, wie wir sie heute noch vom Schädeltrauma kennen. Später umfasste es auch die „posttraumatische Belastungsstörung“, also die physischen Folgen von einschneidenden Erlebnissen: von Krieg, Unfällen, Naturkatastrophen und dramatischen Gewalterfahrungen.“

Heute kann sogar in Teilen der Fachdiskussion schon ein alltägliches negatives Gefühl als „Trauma“ bezeichnet werden, etwa wenn man bemerkt, dass der Partner untreu war. Philipp Hübl weiß: „Begriffserweiterungen lassen sich in Handbüchern der Medizin, in Broschüren von Antidiskriminierungsstellen oder in Forschungsprojekten zur Menschenfeindlichkeit nachweisen.“ Der Psychologe Nick Haslam hat gezeigt, dass sich Begriffe in zwei Richtungen ausdehnen: zum einen horizontal, also zur Seite, indem man Fälle einbezieht, die vorher nicht dazugehörten, wie „psychische Gewalt oder „emotionaler Missbrauch“.

Zur aktiven Tat kommt das passive Unterlassen hinzu

Zum anderen vertikal, sodass nun Fälle in den Blick geraten, die bisher als zu schwach galten, um als Schäden zu zählen. Philipp Hübl erklärt: „Früher bezeichnete man wiederholtes absichtliches Hänseln von Mitschülern als „Mobbing“, heute kann dafür schon ein einziger achtloser Witz ausreichen, den ein Mitschüler als unangenehm empfindet.“ Mit anderen Worten: Zur aktiven Tat kommt das passive Unterlassen hinzu, zum absichtlichen Handeln gesellen sich jetzt unbeabsichtigte oder zufällige Nebeneffekte, und zum körperlichen Schaden fügt man den seelischen Schaden, den „symbolischen Schaden“ oder manchmal sogar einfach nur ein allgemeines Unwohlsein hinzu.

So verschieben sich die Kriterien für Schaden von einer körperlichen, objektiv erforschbaren Ebene auf eine schwer zu erfassende subjektive Ebene. Natürlich hat niemand ein Patentrecht auf Begriffe. Man kann sie so weit oder eng fassen, wie man will. Philipp Hübl stellt fest: „Doch die oft unbemerkte Erweiterung suggeriert vielen, die Welt habe sich verschlechtert, obwohl nur die Begriffe erweitert wurden. Und das ist noch nicht alles.“ In der Öffentlichkeit nimmt auch die Frequenz von bestimmten moralischen Begriffen zu. Quelle: „Moralspektakel“ von Philipp Hübl

Von Hans Klumbies

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