Die positive Psychologie erlebt einen Boom
Der Soziologe Andreas Reckwitz steht auf der Seite der Evolution. Svenja Flaßpöhler erläutert: „So begrüßt er ausdrücklich die zunehmende Sensibilisierung der Gesellschaft und weist allerdings darauf hin, dass diese verfeinerte Wahrnehmung nicht nur positive, sondern auch ambivalente und negative Gefühle hervorbringt.“ Genau diese unangenehmen Gefühle wollen viele Menschen nicht mehr akzeptieren. Andreas Reckwitz verweist zudem auf problematische Konjunktur der positiven Psychologie: „Sensibilität ja, aber bitte nur verknüpft mit positiven Gefühlen! Sensibilität ja, aber als Sinn für wohlgestaltete ästhetische Formen, als Sinn für rücksichtsvolles Miteinander, als Sinn für die Gestaltung des Wohlbefindens von Körper und Seele. Eine Wohlfühlsensibilität.“ So augenöffend diese Beobachtung ist, kann auch sie Schlagseite bekommen. Einer Person of Colour, die auf dem Weg zur Arbeit aufgrund ihrer Hautfarbe Beschimpfungen erlebt, zu sagen, sie müsse auch offen sein für negative Gefühle, ist sicher nicht das, was Andreas Reckwitz meint. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.
Man muss nicht jeden Schmerz aushalten
Die Gemengelage ist bei genauerem Hinsehen komplizierter. Svenja Flaßpöhler betont: „Nicht jeder Schmerz muss ausgehalten, aber auch nicht jeder Schmerz gesellschaftlich verhindert werden.“ Svenja Flaßpöhler geht es in ihrem Buch „Sensibel“ auch darum, das Unzumutbare gerade in den Verabsolutierungstendenzen zu identifizieren, die sich auf beiden Seiten der Frontlinie wiederfinde. Unzumutbar ist zum Beispiel eine verabsolutierte Resilienz, weil sie die Ansprüche der anderen an sich abprallen lässt.
Unzumutbar ist aber auch eine verabsolutierte Sensibilität, weil sie den Menschen auf ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich nicht selbst zu helfen weiß. Die Grenzen des Zumutbaren verläuft im Spannungsfeld dieser beiden Pole und verweist auf ein neues Selbst- und Weltverhältnis, das es noch zu finden gilt. Mehrere Dimensionen spielen bei der Sensibilität eine zentrale Rolle. Sie stehen in einem engen Bedingungsverhältnis zueinander, überlappen sich und durchdringen sich wechselseitig.
Es gibt vier Dimensionen der Sensibilität
Die vier Dimensionen sind: Die leibliche Sensibilität, die psychische Sensibilität, die ethische Sensibilität und schließlich die ästhetische Sensibilität. Svenja Flaßpöhler erklärt die Erstgenannte: „Sie macht uns zunehmend empfindsam für Schmerz und Fremdkörper und lässt uns auch den zumutbaren Abstand zum anderen immer neu vermessen.“ Die Durchschlagskraft der MeToo-Bewegung ist ein ausdrückliches Beispiel dafür, wie sehr sich das Gefühl für Übergriffigkeit in den vergangenen Jahren im Vergleich zum 20. Jahrhundert verfeinert hat.
Durch die Corona-Pandemie erhält die „Berührungsfurcht“, um einen Ausdruck von Elias Canetti zu gebrauchen, virologische Legitimität. Die angemessene Distanz zum anderen wird buchstäblich zu einer Angelegenheit des Zollstocks. Die psychische Sensibilität resultiert historisch gesehen aus der Transformation von Fremdzwängen in Selbstzwänge und geht, wie die leibliche Sensibilität, mit Reizbarkeit und Feinfühligkeit einher. Auch ist die Ausweitung des Gewaltbegriffs auf verletzende Sprache, Bilder etc. hier bedeutsam, führt sie doch unweigerlich zu einer niedrigeren Toleranzschwelle für Außenwirkungen. Quelle: „Sensibel“ von Svenja Flaßpöhler
Von Hans Klumbies