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Es gibt mehrere kollektive Kränkungen

Die erste elementare kollektive Kränkung hat Nikolaus Kopernikus verursacht. Wahrscheinlich war er 1509 zu seiner berühmten Erkenntnis gekommen, dass sich nicht die Sonne um die Erde bewegt, sondern umgekehrt, die Erde um die Sonne kreist. Mit dieser revolutionären Idee wurde das geozentrische Weltbild durch das heliozentrische abgelöst. Reinhard Haller weiß: „Kopernikus wurde wegen dieser „kosmologischen Kränkung“ verlacht, angefeindet und ausgegrenzt.“ Selbst Martin Luther beschimpfte ihn als „Esel“. Die zweite Kränkung der Menschheit erfolgte durch die Lehre von Charles Darwin, den englischen Biologen und Geologen. Dieser vertrat in seinem Buch „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion“ die Theorie, dass der Mensch mit den Tieren verwandt sei. Der Psychiater und Psychotherapeut Reinhard Haller arbeitet vornehmlich als Therapeut, Sachverständiger und Vortragender.

Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Hause

Die dritte große Kränkung der Menschheit, die psychologische, sieht Sigmund Freud gar nicht bescheiden in seinen eigenen Entdeckungen über die Macht des Unbewussten. Ein wesentlicher Teil des menschlichen Seelenlebens entziehe sich dem bewussten Willen, sodass verdrängte Gedächtnisinhalte, unbewusste Triebe und Impulse, der eigentliche Herr im Hause der Menschen seien. In der Folge wurden von kulturphilosophischer und anthropologischer Seite zahlreiche weitere Erkenntnisse und Fortschritte als Kränkungen der Menschheit tituliert.

Als Beispiele nennt Reinhard Haller die Entschlüsselung des genetischen Codes, die Erkenntnisse über die Grenzen des Wachstums sowie die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen. In der Physik gilt die durch die Kernspaltung induzierte Horrorvorstellung von der Möglichkeit, die Menschheit durch Waffen zu zerstören, ebenso als universell kränkend wie die Quantenmechanik, durch die sich die Realität dem menschlichen Vorstellungsvermögen entzogen hat. In jüngerer Zeit sieht man die Menschheit durch Ergebnisse der Genetik und der Hirnforschung gekränkt.

Der „gläserne Mensch“ ist ein Gefangener des Internets

Reinhard Haller stellt fest: „Wenn die Menschen durch die biologische Vererbung ungleich sind, relativieren sich die Möglichkeiten der Erziehung und des sozialen Handelns.“ Wenn Maschinen denken und in ferner Zukunft vielleicht auch Gefühle entwickeln können, ist der Mensch kein „Homo sapiens“. Als „digitale Kränkung“ bezeichnet man die durch die NSA-Spionagen bewusst gewordene Erkenntnis, dass das Macht und Freiheit verheißende Internet letztlich zur Überwachung geführt hat.

Es entsteht dabei das Bild des „gläsernen Menschen“, der in Wirklichkeit nicht Beherrscher, sondern ein Gefangener des großen Netzes ist. Als wahrscheinlich größte Kränkung der Menschheit werde sich, so die Wissenschaft, die Aufklärung des Gehirns erweisen. Sollte das menschliche Gehirn tatsächlich in der Lage sein, sich selbst zu begreifen und den Geist zu entschlüsseln, werde auch das Leib-Seele-Problem auf nicht göttliche Weise gelöst. Um das Phänomen der kollektiven Kränkungen zu verstehen, ist jedoch ein Blick auf die Psychologie der Massen erforderlich, die sich von jener der Individuen erheblich unterscheidet. Quelle: „Die Macht der Kränkung“ von Reinhard Haller

Von Hans Klumbies

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