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Normabweichung ist für viele ein Ärgernis

Offensichtlich hat die Menschheit ein ebenso natürliches wie unstillbares, tief liegendes Bedürfnis nach Inquisition. Und da die Kirche mit derlei Institutionen nicht mehr aufwarten kann, hat man die Inquisition demokratisiert. Manfred Lütz weiß: „All die wahnsinnig Normalen pochen unerbittlich darauf, dass alle, wirklich alle, das sagen, was alle sagen, dass sie also normal reden. Und was normal ist, das bestimmen sie selbst, die wahnsinnig Normalen.“ Kein Wunder also, dass alles Normabweichende ein einziges Ärgernis ist. Gewiss, gegen Normabweichung nach oben traut man sich als einzelnes graues Mäuschen nicht aufzubegehren. So kehrt sich aller unausgelebter Ärger gegen die da oben um in Aggression gegen die da unten. Nach oben ducken und nach unten treten, das können sie gut, die wahnsinnig Normalen. Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe.

Wahnsinnig Normale gibt es in allen Kulturen

Zudem schießen sie sich ein auf Ausländer, die Behinderten und die Gescheiterten der Gesellschaft. Sie schießen zwar nur mit Worten, aber oft mit Worten wie Gewehrkugeln. Nicht leichtfertig reden sie so. Erst nach sorgfältiger Überprüfung, ob der anderen auch normal denkt, sagen sie in wohliger Atmosphäre von Gleichnormalen, was sie alles so Normales denken. Ein dumpfes spießiges Klima herrscht in solchen Kreisen. Das muss schon im alten Athen so gewesen sein.

Die wahnsinnig Normalen gab es offensichtlich zu allen Zeiten, und sie kommen aus allen Schichten der Bevölkerung. Auch Ärzte sind dabei. Manfred Lütz stellt fest: „Die Euthanasiebewegung ist keineswegs von den Nazis erfunden worden, sondern von Ärzten, von Psychiatern.“ Wahnsinnig Normale gibt es in allen Kulturen. Und sie können einem auch unheimlich werden, diese nichtssagenden Gestalten. Sie sagen zwar nichts, aber sie laufen überall mit.

Ein Einzelner kann sich dem Massensog nur schwer entziehen

George Orwell hat in seinem visionären Roman „1984“ die bezwingende Wirkung von Massen dargestellt und wie schwierig es ist, sich einem solchen Massensog als Einzelner zu entziehen. Die wahnsinnig Normalen klatschen gern Beifall, wenn sie in der Masse auftreten. Dann jubeln sie auch Adolf Hitler, Josef Stalin, Mao Tse-tung und Kim Jong-un zu. Und dann sind sie plötzlich nicht mehr grau, sondern braun oder rot oder sonst wie einfarbig. Dann stehen die wahnsinnig Normalen wie geklont in Reih und Glied.

Sie begeistern sich dann für irgendeinem abscheulichen Repräsentanten des ganz normalen Wahnsinns und fühlen sich wohl dabei. Manfred Lütz erklärt: „Denn dann können sie all diejenigen verachten, die sonst immer das Mittelmaß verachtet haben. Dann spüren sie, dass sie, die Mittelmäßigen, ganz viele sind und dass sie Macht haben über all die abweichenden bunten Vögel.“ Und dann geht ein erleichtertes Raunen durch die Masse der wahnsinnig Normalen, dann wird ihre Normalität militant. Quelle: „Neue Irre!“ von Manfred Lütz

Von Hans Klumbies

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