Das Selbst sitzt im Stammhirn
Die erst vor wenigen Jahren entdeckten „Selbst-Netzwerke“ des Menschen haben ihren Sitz im mittleren Teil der unteren Etage des Stirnhirns. Joachim Bauer konkretisiert: „Sie liegen in einem hinter dem roten Bindi-Punkt indischer Frauen gelegenen Bereich.“ Die Entdeckung der Selbst-Netzwerke war an sich schon relativ spektakulär. Sie wurde dann aber durch eine weitere, für das Verständnis der Empathie extrem bedeutsame Beobachtung noch getoppt. In der mittleren Zone des unteren Stammhirns abgespeichert ist nicht nur das Selbst, also alles, was man über die eigene Person fühlt, denkt und was man glaubt, wer man ist. An gleicher Stelle finden sich auch die Nervenzell-Netzwerke. Diese speichern ab, was man über seine wichtigsten Bezugspersonen weiß, denkt und fühlt. Joachim Bauer ist Arzt, Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Bestsellerautor von Sachbüchern.
Das eigene Selbst ist ein Mehr-Perspektiven-Selbst
„Ich“ und „Du“ sind im Menschen also neuronal gekoppelt. Joachim Bauer stellt fest: „Das menschliche Selbst ist seiner Natur nach also ein Mehr-Perspektiven-Selbst. Es hat den anderen sozusagen im geistigen Gepäck immer mit dabei.“ Gegen Ende des zweiten Lebensjahres hat es sich in seiner Grundstruktur etabliert. Danach entwickelt sich das „Selbst“ des Kindes zu einer Instanz, mit der es sich wahrnimmt und von der aus es sich steuert.
Um die Steuerungsfähigkeit des Kindes zu entwickeln, muss die Bezugsperson das „Selbst“ des Kindes ab etwa dem dritten Lebensjahr ansprechen. Sie muss das Kind dazu anhalten, sich nun seinerseits empathisch zu verhalten und die Perspektive anderer zu berücksichtigen. Erziehung zur Rücksichtnahme ist kein gegen die „wahre“ Natur des Menschen gerichtetes, sozusagen kontrabiologisches Programm. Sondern sie ist Teil der biologischen Bestimmung des Menschen. Wenn diese Erziehung freundlich und in einer jeweils altersangemessenen Weise stattfindet, wird ein junger Mensch mit reifer Empathie heranwachsen.
Der Mensch kann auch mit der Natur in Resonanz treten
Der Mensch verfügt über die Fähigkeit mit der Natur in einer empathischen Beziehung zu stehen. Dies beruht darauf, dass er nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit der Natur in Resonanz treten kann. Joachim Bauer weiß: „Kinder erleben dies noch gänzlich unverstellt. Sie treten, wenn man sie in die Natur führt und entsprechend anleitet, mit Pflanzen und Tieren in eine natürliche Resonanz.“ Das Selbst eines Menschen endet nicht an den Grenzen seiner Haut.
Beim menschlichen Selbst handelt es sich also um ein erweitertes Selbst. Diese These gehört sowohl in der Philosophie als auch in den Neurowissenschaften zu den „heißesten“ derzeit gehandelten Themen. Für den modernen Menschen sind eine ganze Reihe von Objekten zu einem Teil seines erweiterten Selbst geworden. Als Beispiele nennt Joachim Bauer vor allem Handygeräte und Accounts in den sozialen Medien, oft aber auch Objekte wie das eigene Auto. Auf der anderen Seite scheinen sich leider viele Menschen von der inneren Verbundenheit mit der Natur abgeschnitten zu haben. Quelle: „Fühlen, was die Welt fühlt“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies