Der Führer sät Hass gegen Minderheiten
Führer und Masse haben nüchtern betrachtet, außer ihren zueinanderpassenden Phantasmen, eigentlich keine gemeinsamen Interessen. Daher bedarf es eines gemeinsamen Feindes, um die ungleiche Ehe zwischen Masse und Führer zusammenzuhalten. Joachim Bauer weiß: „Der Führer sagt den Abhängigen, die Schuldigen für ihre Benachteiligungen zu kennen, und sät Hass gegen Minderheiten: Gebildete, Migranten, Homosexuelle und andere.“ Der Hass dient dem Narzissten als Mittel, um seine Abhängigen bei der Stange zu halten. Auch Deutschland war und ist eine Bühne für das Wechselspiel zwischen abhängigen Massen einerseits und narzisstischen Möchtegern-Führungsfiguren andererseits. Die von der ostdeutschen Bevölkerung der ehemaligen DDR erkämpfte Wiedervereinigung war ein Glück. Allerdings kam es nach 1989 zu einer Entwicklung, die von vielen, die in der ehemaligen DDR gelebt haben, als Demütigung erlebt wurde. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Narzissten suchen eine abhängige Masse
Der industrielle Kollaps des Ostens hatte über viele Jahre hohe Raten von Arbeitslosigkeit zur Folge. Fatal waren auch der zeitweise Zusammenbruch des Schulsystems und über die gesamten 1990er-Jahre hinweg das Fehlen von Einrichtungen, in denen sich junge Menschen hätten friedlich treffen, sich demokratisch orientieren, sich kreativ betätigen oder für eine gute Sache hätten engagieren können. So entstand eine Situation, in der viele im Osten lebende Kinder, Jugendliche und Erwachsene das Gefühl hatten, sie seien bedeutungslos oder zumindest weniger wert als andere.
Ihr Selbst sei defizient, nicht gut genug. In dieses Selbst-Vakuum hinein stießen nun rechtsradikal gesinnte Figuren aus der ehemaligen DDR und aus dem alten Westen, die sich den Gedemütigten als Führung anboten. Unter diesen Figuren finden sich zahlreiche anerkennungssüchtige Narzissten auf der Suche nach einer abhängigen Masse, der sie Rache an den angeblichen Schuldigen ihrer schlechten Situation und neue Größe versprechen. Joachim Bauer stellt fest: „Nicht nur die Abhängigkeit, auch die Depression hat ihre Ursache in einer Dysbalance des Selbst-Systems.“
Depressionen befallen oftmals ausgezeichnete Funktionierer
Die meisten Menschen, die an einer Depression erkranken, haben ein stabiles Selbst. Ein gesundes Selbst-Teilstück ist jedoch mit einem problematischen zweiten Selbst-Element gepaart, welches Bedingungen an die Akzeptanz stellt. Vom Risiko der Depression betroffenen Menschen sind, solange sie noch keine Depression haben, daher ausgezeichnete Funktionierer. Sie machen, tun und stellen sich in den Dienst anderer, bis sie vor Erschöpfung umfallen.
Joachim Bauer erklärt: „Sie gehören zu den Menschen, die in besonderer Weise von der Unfähigkeit betroffen sind, sich einfach einmal entspannen und genüsslich bei sich sein zu können.“ Sie dürfen sich über nichts wirklich freuen. Denn wenn sie dies täten, dann würde sich das erwähnte Selbst-Teilstück melden, welches sie ständig antreibt und ihnen immer, wenn sie nachzulassen drohen, eine ermahnende Ansage macht. Innere Ansagen, trotz ständiger Bemühungen um Perfektion ungenügend zu sein, sind das, was an Depression erkrankte Menschen, vor allem in der Frühphase ihres Lebens, tatsächlich als äußere Ansagen über Jahre gehört haben. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies