Karl Marx und Sigmund Freud glauben an die Macht der Wahrheit
Erich Fromm erläutert die grundlegenden Ansprüche, die den beiden Denkern Karl Marx und Sigmund Freund gemeinsam sind. Als erste gemeinsame Haltung nennt er ihre kritische Grundhaltung. Der Zweifel im Denken von Karl Marx und Sigmund Freud betrifft vor allem das, was der Mensch über sich und andere denkt. Karl Marx zum Beispiel hielt das meiste, was die Menschen über ihre eigene Person und über ihre Mitmenschen denken, für reine Illusion oder Ideologie. Erich Fromm fügt hinzu: „Er glaubte, unsere persönlichen Gedanken richten sich nach den Ideen, welche die jeweilige Gesellschaft entwickelt, und diese Ideen seien von der besonderen Struktur und Funktionsweise der Gesellschaft determiniert.“ Eine wachsame, skeptische Einstellung gegenüber allen Ideologien, Ideen und Idealen ist laut Erich Fromm für Karl Marx kennzeichnend.
Viele Vorstellungen der Menschen haben wenig mit der Wirklichkeit zu tun
Erich Fromm vertritt die These, dass man die gesamte psychoanalytische Methode Sigmund Freuds als eine Kunst des Zweifelns bezeichnen könnte. Der Begründer der Psychoanalyse entdeckte, dass die meisten Vorstellungen, die Menschen haben, sehr wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben und dass der größte Teil der Realität ihnen nicht bewusst ist. Erich Fromm ergänzt: „Karl Marx hielt die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft für die grundlegende Wirklichkeit, während Sigmund Freud diese in der libidinösen Organisation des Individuums gegeben sah.“
Sowohl Karl Marx wie auch Sigmund Freud hegten die gleiche unerbitterliche Skepsis gegenüber sämtlichen Klischees, Ideen, Rationalisierungen und Ideologien, mit denen die Köpfe der meisten Menschen gefüllt sind und die die Basis dessen bilden, was sie irrtümlicherweise für die Wirklichkeit halten. Diese Skepsis gegenüber dem, was „man denkt“, ist bei beiden Denkern mit dem Glauben an die befreiende Macht der Wahrheit verbunden.
Illusionen machen das Elend des wirklichen Lebens erträglich
Karl Marx wollte die Menschen von den Ketten ihrer Abhängigkeit und ihrer Entfremdung, von ihrer Versklavung durch die Wirtschaft befreien. Die seine Methode war nicht die Gewalt, wie viele Menschen selbst heute noch fälschlicherweise annehmen. Laut Erich Fromm versuchte er die Mehrheit der Bevölkerung für seine Ideen zu gewinnen. Karl Marx vertrat die Ansicht, dass man nur Gewalt anwenden dürfe, wenn die Minderheit sich gewaltsam dem Willen der Mehrheit widersetzt. Sein Hauptproblem war nicht, wie man die Macht im Staat erringen, sondern wie man die Menschen von seiner Theorie überzeugten konnte.
Karl Marx wollte die Menschen nicht durch demagogische Überredungsküste beeinflussen, indem er durch die Furcht vor Terror halbhypnotische Zustände hervorrief, sondern appellierte an den Wirklichkeitssinn und an die Wahrheit. Erich Fromm erklärt: „Die seiner Waffe der Wahrheit zugrundeliegende Auffassung war die gleiche wie bei Sigmund Freud: dass der Mensch mit Illusionen lebt, weil diese Illusionen das Elend des wirklichen Lebens erträglich machen.“
Kurzbiographie: Erich Fromm
Erich Fromm wurde am 23. März 1900 in Frankfurt am Main geboren. Vor seinem Jurastudium an der Frankfurter Universität beschäftigte er sich stark mit dem Talmud. Da er sich mit dem Studium der Rechte nicht sehr anfreunden konnte, ging er nach Heidelberg um Soziologie zu studieren. 1922 promovierte er mit einer Dissertation über „Das jüdische Gesetz“. 1926 heiratet er die Psychiaterin Frieda Reichmann und absolvierte eine psychoanalytische Ausbildung. 1929 wurde Erich Fromm zum Mitbegründer des Süddeutschen Instituts für Psychoanalyse in Frankfurt.
Im Jahr 1933 hielt Erich Fromm Gastvorlesungen an der Universität von Chicago und ließ sich ein Jahr später in New York nieder. 1941 erschien sein Buch „Die Furcht vor der Freiheit“, durch das er berühmt wurde. 1947 publizierte er sein bedeutendes Werk „Psychoanalyse und Ethik“. 1951 wurde Erich Fromm Professor für Psychoanalyse an der Autonomen Universität von Mexiko. 1955 erschien sein drittes Hauptwerk „Der moderne Mensch und seine Zukunft“. Seinen größten publizistischen Erfolg erzielt Fromm allerdings mit seinem Buch „Die Kunst des Liebens“ (1956). Sehr bekannt geworden ist auch sein Spätwerk „Haben oder sein“ von 1976. Erich Fromm der seit 1974 in Locarno, in der Schweiz, lebte, starb am 18. März 1980.
Von Hans Klumbies