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Im Traum zerbröckelt der Mensch

Emanuele Coccia schreibt: „Die Vorstellung, dass unser Ich im Augenblick seiner Geburt an unter dem Einfluss eines sinnfälligen Bildes steht, überrascht nicht wirklich. Wir erfahren diesen subtilen, stummen Einfluss viel häufiger, als wir denken.“ Nacht für Nacht meint man, jeden Kontakt zur Außenwelt abgebrochen zu haben. Man wiegt sich in absoluter Intimität mit sich selbst. Aber die Träume gönnen es einem nicht, dass man sein Gesicht weiter unablässig betrachtet. Immer dann, wenn man träumt, hört der anatomische Körper und jenes Phantasma, das man „Ich“ nennt, auf, über die eigene Natur zu bestimmen. Das Wesen eines Menschen zerbröckelt und löst sich in einer vielstimmigen Liturgie von Personen, Figuren und Geschichten auf. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

Am Grund der Seele lebt der rege Geist

Plötzlich kann alles die Form des Betroffenen annehmen, und das Ich vervielfältigt sich in der klangvollen Stimme aller Dinge. Emanuele Coccia stellt fest: „Der im Wachzustand so offenkundige Gegensatz zwischen Ich und Welt verschwindet. Das Ich entdeckt aufs Neue, dass seine eigenen Grenzen und die Grenzen der Welt eins sind, und dass die Welt jetzt im Ich enthalten ist und vom Ich neu erschaffen wird.“ Diesen Chiasmus macht erst das Sinnenleben möglich.

Der Traum ist die höchste Form der Intimität alles Lebendigen. Hier jedoch ist Intimität gleichbedeutend mit dem Transfundieren des Subjekts in die Materie aller Dinge. Gerade wenn man die radikalste Nähe zu sich selbst erfährt, löst sich das eigene Gesicht, die eigene Form in einen Regenbogen sinnfälliger Bilder scheinbar auf. Am geheimsten Grund der Seele findet man kein klar umrissenes Gesicht, keinen definierten Körper. Sondern man trifft auf den regen Geist, den die Bilder von Mal zu Mal neu schraffieren.

Im Traum bekommt das Seelenleben eine ungeheure Intensität

Tatsächlich bedeutet „träumen“ in erster Linie „imaginieren“. Dabei ist die Imago, das Bild, hier kein simpler psychischer Gegenstand, sondern gleichsam die Materie, das Leben, aus dem alles gemacht ist und sich speist. Emanuele Coccia erläutert: „Wir selbst besitzen nur den eigenen Körper, der durch das von uns Vorgestellte bestimmt wird. Die menschliche Fantasie hört auf, eine Beziehung zu etwas, das außerhalb ist, zu definieren.“ Sie fällt rastlos mit dem Faktum, den Formen, dem Rhythmus der Existenz in eins.

Denn träumend existiert man nur seines Vorstellungsvermögens wegen und auch nur in den Gestalten, welche die Fantasie hervorzubringen vermag. Emanuele Coccia erklärt: „Was wir imaginieren, verleiht uns unsere Form, und nur die Tatsache, dass wir imaginieren, sichert unsere Existenz. Die Imagination selbst wird zum Leib, und diese unteilbare, nichtorganische Verleiblichung bestimmt unsere primäre Stofflichkeit.“ Im Traum bekommt das Seelenleben eine ungeheure Intensität und scheint ein Leben in etwas minderer Form darzustellen. Quelle: „Sinnenleben“ von Emanuele Coccia

Von Hans Klumbies

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