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Viel Eigentum soll das Selbst aufblähen

Sein nacktes Selbst ist dem Menschen entweder zu klein oder nicht gut genug. Dies erklärt für Joachim Bauer, warum viele zeitlebens mit dem Versuch beschäftigt sind, ihr Selbst zu vergrößern, aufzublähen oder besser zu machen, als es ist. Eine schon im Kindesalter zu beobachtende Methode, das eigene Selbst zu vergrößern, besteht darin, dass man sich drapiert oder mit Dingen behängt. Joachim Bauer fügt hinzu: „Erwachsene versuchen ihr Selbst zum Beispiel dadurch aufzublähen, dass sie möglichst viel Eigentum erwerben.“ Die Annahme, der Mensch zähle seinen Besitz zu seinem Selbst, ist aus psychologischer Sicht keineswegs abwegig. Was man beruflich leisten, kann auch der Selbstvergrößerung dienen. Je bedürftiger das Selbst eines Menschen ist, desto wichtiger ist es ihm, ständig über seine Arbeit zu sprechen und seine Auszeichnungen zu erwähnen. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

Zwerge wollen in der Masse groß werden

Eine potenziell weniger putzige Art, sein Selbst aufzublähen, ist das Streben danach, Teil einer Massenbewegung zu werden. Joachim Bauer erläutert: „Viele Menschen folgen populistischen oder demagogischen Verführern, die versprechen, aus ihnen, den sich schwach fühlenden Zwergen, etwas Großes zu machen.“ Nationalistische Bewegungen haben viele Ursachen, die Joachim Bauer hier nicht simplifizieren oder psychologisieren will. Politische Brandstifter täten sich mit der Mobilisierung von Anhängern aber weitaus schwerer, hätten Menschen nicht das Bedürfnis, ihr schlechtes Selbstgefühl mit der Heißluft des Nationalismus aufzublähen.

Joachim Bauer stellt fest: „Eine besondere Attraktion scheint von großen Aufmärschen, Paraden und – möglichst im Gleichschritt – marschierenden Menschenmassen auszugehen.“ Synchron ausgeführte Bewegungen, gemeinsame Parolen oder miteinander gesungene Lieder verstärken das Gefühl, das eigene Selbst werde zu einem Teil eines großen Gruppen-Selbst. Diese Mechanismen sind nicht per se gut oder schlecht. Sie können etwas Gutem dienen, ebenso aber im Dienst des Bösen stehen.

Eine Führerfigur soll das eigene Selbst ersetzen

Gut sind sie, solange sie vernunftgesteuert sind, nicht ausschließlich der Aufblähung von Selbst-Zwergen dienen, nicht mit Gewalt einhergehen und keinen Hass propagieren. Ausdruck des Bösen sind sie, wenn sie Gewalt, Menschenverachtung und Rassismus transportieren. Eine weitere Spielart, in der sich der Wunsch widerspiegelt, ein größeres Selbst zu haben, ist der Wunsch nach einer Führungsfigur. In diesen Fall ist es nicht die Masse, sondern ein herausragender anderer Mensch, der das eigene Selbst ersetzen soll.

Auch dieser Modus ist nicht per se abzulehnen. Joachim Bauer nennt Beispiele: „Väterliche oder mütterliche Führungsfiguren können ein Land einen – siehe Nelson Mandela – aber eben auch ruinieren – wie im Falle Adolf Hitlers.“ Dass der Mensch von der Sehnsucht getrieben ist, sein Selbst zu vergrößern und aufzublähen, liegt nicht nur in dem Gefühl begründet, dass man – global gesehen – so unendlich klein ist. Ein mindestens ebenso bedeutsames Motiv ist die Sterblichkeit, welche die Menschen frustriert und der sie zu entkommen versuchen. Quelle: „Wie wir werden, wer wir sind“ von Joachim Bauer

Von Hans Klumbies

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