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Begegnungen verändern die Innenwelt

Der innere Wandel, den Begegnung bewirkt, kann auch moralischer Natur sein. Charles Pépin erklärt: „Weil ich dir begegnet bin, weil wir uns plötzlich gegenüberstanden und mich deine Zerbrechlichkeit berührt hat, wurde ich von meinem natürlichen Egoismus oder zumindest von meiner Gleichgültigkeit losgerissen.“ Man fühlt sich dadurch für einen anderen als sich selbst verantwortlich. Die Begegnung mit einem Anderen offenbart die eigene Person als moralisches Wesen. „Sprechen heißt den Anderen erkennen und sich ihm gleichzeitig zu erkennen geben“, schreibt Emmanuel Lévinas in „Schwierige Freiheit“. Die eigene Verantwortung beginnt in dem Moment, in dem wir mit dem Anderen ins Gespräch kommen. Die banalste Frage könnte auf etwas Wichtiges hinauslaufen. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Der Andere kann immer nur Zweck und nie bloßes Mittel sein

Das erklärt, warum man einen Obdachlosen lieber nicht anspricht und eine Begegnung erst gar nicht zustande kommen lässt. So braucht man sich für ihn nicht verantwortlich fühlen. Charles Pépin stellt fest: „Mag sein, dass wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir mit gesenktem Kopf und abgewandtem Blick unseren Weg an ihm vorbei fortsetzen. Aber wir sind für sein Los nicht verantwortlich.“ Das Gebot, den Anderen zu achten, ist das Kernstück der jüdisch-christlichen Kultur, aber es ist oft zu allgemein und abstrakt.

Manche Menschen bringen ihren Kindern bei, dass jeder Mensch Achtung verdient, unabhängig von seinen Taten, allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Menschheit. Bei Immanuel Kant findet sich die Idee, dass die Menschheit den Anderen „immer als Zweck und nie als bloßes Mittel“ ansehen darf. Charles Pépin erläutert: „Das bedeutet, dass wir den Anderen als Person achten müssen, selbst wenn unser Verhältnis zu ihm ein interessengeleitetes ist, weil er unser Kollege, unsere Angestellte, unser Kunde ist.“

Eine Geburt sorgt für das Verantwortungsgefühl der Eltern

Ohne echte Begegnung des Anderen jedoch wird dieses Gebot, den Anderen zu achten, nur eine Worthülse, ein frommer Wunsch bleiben. Das wahre moralische Gebot, führt Emmanuel Lévinas aus, kommt weder von Gott noch vom menschlichen Gewissen. Es kommt zuerst vom Anderen, von seiner Gegenwart. Von eben jenem Anderen, der manchmal kein Wort zu sagen braucht, sondern einfach da ist, hier vor einem Selbst, in einer prekären Lage, verletzlich, menschlich.

Charles Pépin betont: „Seine Vulnerabilität verpflichtet mich, sobald ich ihm begegne.“ Die Vulnerabilität eines Neugeborenen zum Beispiel setzt diesen Prozess des Gewahrwerdens sofort in Gang. Da ist die Mutter, da ist der Vater, und das Leben des Babys liegt in ihren Händen. Bei der Geburt, als die Eltern den kleinen zarten Körper des Neugeborenen sahen, das Gesicht zum Vorschein kam, gab es nicht mehr den leisesten Zweifel. Plötzlich war das Verantwortungsgefühl da. Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin

Von Hans Klumbies

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