Die Einsamkeit durchzieht das Leben wie eine Welle
Es existiert kein Wort für das Gegenteil von Einsamkeit. Aber wenn es eins gäbe, dann vielleicht Heimat. Immer mehr Menschen verbringen mehr Zeit mit ihrem Handy als mit ihrer Familie. An einem Fleck bleiben, einen Job in derselben Firma, Jubiläen im Kreise der Familie, Freunde, Vereinskumpel zu feiner, das gibt es nicht mehr, jedenfalls nicht in den großen Städten. Hinzu kommt die Digitalisierung des Lebens, die Hinwendung zum Smartphone, zum Chat, zu Instagram und Facebook. Abends allein auf dem Sofa statt im Gespräch in der Kneipe, mit Menschen aus Fleisch und Blut, die einem gegenübersitzen, die man anfassen, anlächeln oder auch mal anschreien kann. Vor zwei Jahren tauchte im Netz das Video „Look Up“ auf. Es erzählt von einer Gesellschaft, die einander nicht mehr in die Augen schaut, sondern nur noch auf den Bildschirm.
Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es soziale Medien
Es gibt diese Angst, allzeit vernetzt zu sein und doch allein. Für die Unabhängigkeit irgendwann einen Preis zahlen zu müssen. Aber das muss man nicht. Vierzig Prozent aller Deutschen leben allein. Hier kommen weniger Babys zur Welt als in den meisten Ländern Europas. Kinder wohnen weit entfernt von ihren Eltern. Immer häufiger kommunizieren sie online statt von Angesicht zu Angesicht. Es ist romantisch zu glauben, dass früher alles besser war. Aber auch ein bisschen naiv. Wir haben eine Welt erschaffen, in der wir einander fern und doch so nah sein können.
Zum ersten Mal gibt es Medien, die man sozial nennt. Natürlich gibt es einsame Seelen im Land, sogar viele. Vier bis acht Prozent sagen in Umfragen, dass sie sich oft einsam fühlen. Aber dass das digitale die Gesellschaft zerstört, ist ein Irrglaube. Nur die Furcht vor der Macht neuer Formen der Kommunikation blieb stets konstant. Das Telefon führe dazu, dass Menschen einander nicht mehr träfen, hieß es einst. Unfug, wie man heute weiß. Die Menschen besuchen einander immer noch – nur rufen sie vorher an.
Fast jeder Mensch fühlt sich im Laufe seines Lebens einmal einsam
Die Universität Köln veröffentlichte erst jüngst die Ergebnisse einer Studie, die das Leben von mehr als 1.600 Deutschen über Jahrzehnte hinweg vermessen hat. Danach durchzieht Einsamkeit das Leben wie eine Welle: Mal schnellt sie hoch, mal wieder runter. Besonders im Alter von 30 und 50 Jahren fühlten sich viele Teilnehmer einsam; mit 40 und 60 besonders wenige. Warum das so ist, ist den Forschern noch unklar. Was allerdings feststeht: Fast jeder Mensch fühlt sich im Laufe seines Lebens einmal einsam.
Das Gefühl der Einsamkeit kann den Betroffenen flüchtig überkommen oder heftig. Es ist existenziell, denn es stellt alles infrage: die Persönlichkeit, den Lebensentwurf, das Geleistete. Es bricht immer dann hervor, wenn der eigene Weg plötzlich abbricht, nach einem Umzug oder einer Scheidung, nach dem Tod eines Liebsten. Die Einsamkeit kommt in allen Formen und Farben. Man kann allein sein unter vielen, zu zweit und für sich selbst. Der einzige Schutz ist die Anwesenheit eines Vertrauten im Augenblick der Katastrophe. Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies