Selbstüberwindung führt zum eigenen Selbst
Einzeln sein: Viele Menschen denken da sogleich an Selbstverwirklichung. Diese hatte einst einen guten Klang, als damit vor allem politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Befreiung gemeint war. Inzwischen ist der frühere Glanz etwas matt geworden. Denn Selbstverwirklichung bedeutet heute oft nur: Alles muss raus. Also Selbstverwirklichung um jeden Preis, oder: Alles muss rein. Also Selbstverwirklichung im Konsum. Rüdiger Safranski betont: „Gewiss lässt sich Selbstverwirklichung anspruchsvoller denken, auch heute noch. Aber dann wird wohl ein Moment von Selbstüberwindung mitgedacht werden müssen.“ Selbstüberwindung galt früher als ein Weg, zu sich selbst zu kommen. Es ging immer auch um Arbeit an sich selbst. Rüdiger Safranski ist seit 1986 freier Autor. Für sein in 26 Sprachen übersetztes Werk wurde er u.a. mit dem Thomas-Mann-Preis, mit dem Ludwig-Börne-Preis und dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet.
Illusionen und Hemmnisse müssen überwunden werden
Dabei ging es um die Überwindung von Hemmnissen, Illusionen, Gewohnheiten. Auch musste man das Triebhafte bändigen und das Dunkle aufhellen. Rüdiger Safranski erklärt: „Einzeln sein bedeutet, aus einer Tatsache – jeder ist einzeln – eine Aufgabe zu machen, für das Leben und für das Denken.“ Dann bemerkt man, wie schwierig es ist zu unterscheiden, ob man selbst oder die Gesellschaft in einem denkt und empfindet. Einzeln sein bedeutet, dass man zwar immer irgendwo dazugehört, doch auch imstande ist, für sich allein stehen zu können.
Man muss seine Identität nicht nur in einer Gruppe suchen oder seine Probleme auf die Gesellschaft abwälzen. Einzeln sein bedeutet auch, Abstand halten und womöglich auf Zustimmung verzichten zu können. Jeder ist ein Einzelner. Aber nicht jeder ist damit einverstanden und bereit, etwas daraus zu machen. Es kommt stets darauf an, wie der Einzelne die Probleme seiner Einzelheit annimmt und erträgt. Dazu zählen Einsamkeit etwa oder schicksalhafte Gegebenheiten aus biologischen Prägungen und gesellschaftlichen Zufällen.
Man kann die Vereinzelung freiwillig in Kauf nehmen
Übernimmt man sie oder hadert man mit ihnen, versucht man sie zu verbergen vor sich und den anderen? Entwickelt man das Eigene, oder gleicht man sich an? Meistens entscheidet man sich für irgendetwas dazwischen. Und doch gibt es auch die Flucht in das Nicht-Eigene, wobei keiner er selbst ist, sondern jeder wie der andere. Wer als Einzelner seine Eigenheit entdeckt und annimmt, möchte zwar sich selbst gehören, aber doch auch zugehörig bleiben. Diese Spannung bleibt.
Denn man kann die Vereinzelung unfreiwillig erleiden, und man kann sie freiwillig in Kauf nehmen im Kampf um seine Eigenheit. Dabei lockern sich wohl die Bindungen an die Familie und andere Gesellschaftsverbände. Rüdiger Safranski weiß: „Wer sich als Einzelner erlebt, steht im Freien, ohne sich deshalb schon befreit zu fühlen.“ Denn er merkt, wie sehr er auf Anerkennung angewiesen bleibt, insgeheim oder ausdrücklich. Der Einzelne, der auf seiner Eigenheit besteht, begnügt sich nicht mit dem einfachen Dazugehören. Er will vielmehr in dem anerkannt werden, was ihn von anderen unterscheidet. Quelle: „Einzeln sein“ von Rüdiger Safranski
Von Hans Klumbies