Das Gefühl des Unbehagens greift um sich
Sigmund Freuds Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ wurde oft variiert. Armin Nassehi verdeutlicht dies an zwei Beispielen, die in ihren deutschen Übersetzungen bis in den Buchtitel hinein das Motiv des „Unbehagens“ zitieren. Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht von „The Malaise of Modernity“, in der deutschen Ausgabe: „Das Unbehagen an der Moderne“. Die Quelle des Unbehagens ist auch bei ihm der Verlust oder die Unmöglichkeit von sozialen Bindungen. Den Grund dafür macht er im Individualismus der modernen Kultur aus, die so etwas wie eine unbedingte Zugehörigkeit mit kollektiver Zwecksetzung erschwert. Die Folge ist eine Verflachung der kollektiven Anstrengungen zur Verbesserung der gemeinsamen Welt. Daraus entsteht ein narzisstischer Individualismus. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Das Individuum ist narzisstisch gestört
Als zweites Beispiel nennt Armin Nassehi die Studie „La Société du malaise“ des französischen Soziologen Alain Ehrenberg. Auf Deutsch ist das Buch mit dem Titel „Das Unbehagen in der Gesellschaft“ erschienen. Alain Ehrenberg kommt ebenfalls zur Diagnose einer narzisstischen Störung des Individuums in der Moderne. Dieses kann sein Verhältnis zur kollektiven Ebene und zu den gesellschaftlichen Institutionen nicht angemessen gestalten. Gemeinsam ist diesen Diagnosen des Unbehagens, der Malaise, dass sie sich einerseits auf den Verlust übersichtlicher Zugehörigkeiten beziehen und die unpersönliche Form einer Gesellschaft unter Fremden betonen.
Andererseits wenden sie dies vor allem auf „höhere“ Formen der Vergesellschaftung an. Armin Nassehi stellt fest: „Das Problem der Moderne, der Gesellschaft, der Zivilisation ist danach vor allem das Problem der Gruppengröße und ihrer sozialen Komplexität. Das Bezugsproblem dieser Diagnosen liegt folglich in der Sozialdimension.“ Sigmund Freud erkennt die Monstrosität von zu großen und zu großartigen Kollektiven. Der Kommunitarist Charles Taylor scheint die Logik familialer Zugehörigkeit als normatives Modell fürs Gesellschaftliche zu sehen.
Die Gesellschaft ist eine Quelle der Erschöpfung
Alain Ehrenberg beschreibt die Gesellschaft als Quelle der Erschöpfung, gegen die der Einzelne nicht mehr ankommt. So unterschiedlich diese Diagnosen auch ausfallen, so ausschließlich beziehen sie sich allesamt auf die Sinndimension des Sozialen. Sie kennen die Gesellschaft nur als Großgruppenphänomen, nur als sozialen Behälter, und Individuen nur als Gegenüber oder Elemente solcher Großgruppen. Gelungene Vergesellschaftung kann hier nur in Form eines Ausgleichs zwischen einer eher individuellen und einer eher gesellschaftlichen Ebene gedacht werden.
Armin Nassehi erläutert: „Solche Perspektiven tendieren in mitunter erhellender Weise dazu, das Individuum und dessen Leiden zu akzentuieren. Die Gesellschaft bleibt demgegenüber jedoch ein erstaunlich unterkomplexes Phänomen.“ Das Subjekt ist Krise – es findet sich als literarische Figur vor, nicht zuletzt als gebrochenes Selbstverhältnis. Der Horizont ist stets eine explizite oder implizite Idee gelungener Subjektivität. Als gebe es hinter dem durch die Welt korrumpierten Subjekt noch ein eigentliches, ein wirkliches, ein heiles Subjekt. Dieses freizulegen ist die eigentliche Aufgabe der Selbstwerdung. Quelle: „Unbehagen“ von Armin Nassehi
Von Hans Klumbies