Die Liebe verwirklicht sich in der Dauer
Das Leben ist stärker als die Theorie. Charles Pépin erläutert: „Immer dann, wenn sich die Welt mir anders darbietet, weil ich sie mit deinen Augen entdecke, weiß ich, dass ich dir begegnet bin.“ Der Philosoph Alain Badiou schreibt über die Liebesbegegnung: „Die Liebe ist eine Konstruktion, ein Leben, das nicht mehr ausgehend vom Gesichtspunkt des Einen, sondern der Zwei geführt wird.“ Diese Konstruktion verwirklicht sich, wie alle Konstruktionen, in der Dauer. Es braucht Zeit, um den Anderen zu entdecken, um zu begreifen, aus welchem Blickwinkel er die Dinge sieht. „Wir werden den Anderen niemals bis in alle Winkel erkundet haben“, stellt Alain Badiou voller Heiterkeit in einem Interview fest. Charles Pépin ist Schriftsteller und unterrichtet Philosophie. Seine Bücher wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Die Liebe führt zur Philosophie
Die intellektuelle Erfahrung der Veränderung des Gesichtspunktes wäre ohne Affekte schlicht unmöglich. Charles Pépin weiß: „Ohne Liebe und Freundschaft wären wir unfähig, diese Erfahrung der Andersheit zu machen.“ Das ist die Bedeutung dieser rätselhaften Behauptung Platons: „Wer nicht mit der Liebe anfängt, wird niemals wissen, was Philosophie ist.“ Philosophieren bedeutet, aus der Abkapselung in der eigenen Meinung herauszukommen und zu lernen, „gegen sich“ zu denken.
Die Liebe führt einen Menschen zur Philosophie, weil sie ihn lehrt, sich an die Stelle des Anderen zu versetzen, die Welt vom Gesichtspunkt des Unterschieds zu betrachten. Denn man sieht dann die Dinge nicht mehr auf die gleiche Weise, allein aus der eigenen Identität heraus, „ausgehend vom Gesichtspunkt des Einen“. Sondern man erkennt den wunderbaren Unterschied, „vom Gesichtspunkt der Zwei“, das ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass man dem Anderen begegnet ist und ein Dialog begonnen hat.
Der Andere ist in seiner Andersheit anzuerkennen
Dieser Dialog beginnt übrigens immer häufiger vor der psychischen Begegnung, sei es auf dem Handy oder vor dem Computer. Wenn man sich für den Gesichtspunkt des Anderen öffnet, lassen sich manche Missverständnisse ausräumen, manche Krisen entwirren. Charles Pépin blickt zurück: „Mit seinen philosophischen Dialogen, die als neues Genre mit dem antiken Theater wetteifern sollten, stimmt Platon ein Hohelied auf die Begegnung an: Die Gegenüberstellung verschiedener Gesichtspunkte bringt das Denken hervor und erlaubt allen Diskutanten daran zu wachsen.“
Denn sie öffnen sich für die Position des Anderen, ohne die eigene zu negieren, die vielmehr vertieft wird. Die schönsten Dialoge Platons sind „Der Sophist“ oder „Das Gastmahl“, in denen unterschiedliche Gesichtspunkte, die alle gleichermaßen bedenkenswert sind, nebeneinander stehen bleiben. Charles Pépin betont: „Auch in der Liebes- oder Freundschaftsbegegnung geht es darum, den Anderen an unserer Seite in seiner Andersheit existieren zu lassen.“ Quelle: „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin
Von Hans Klumbies