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Die Neurose findet ihre Heimat in der Verzweiflung der Menschen

Die Großstadt, so heißt es, sei ein gefährliches Pflaster für den Fremden. Die Fremdheit, die Undurchsichtigkeit schafft Angst und Abenteuer. Alle diese Effekte gehen darauf zurück, dass die Großstadt, eben wie Babylon, die große Hure ist. Der vagen Behauptung, die Großstadt erzeuge Neurosen, erwidert Alexander Mitscherlich mit einer auf viel Erfahrung sich stützenden Gegenbehauptung, dass die Großstadt das probateste Mittel gegen viele Neurosenquellen sei: „Gegen alle Folgen der Enge und Stagnation des Zweitrangigen, der Intoleranz, des Sich-Aufspielens, des unentrinnbaren kollektiven Zwangs, der scheinheiligen Beobachtung und verborgenen Tyrannei.“ Die Neurose ist laut Alexander Mitscherlich überall dort zuhause, wo Verzweiflung ist, und Verzweiflung ist überall, wo Menschen sind. Dennoch sind heut viele Großstädte ohne Zweifel ein nahezu unerträglicher Ort des Aufenthalts.

Die härtesten Belastungsproben lauern auf den Menschen in der Industriegesellschaft

Je mehr Menschen in der Zukunft ihr Leben ausschließlich in Großstädten führen werden, desto entscheidender wird die prägende Kraft dieser Metropolen für die Verfassung der Menschheit ins Gewicht fallen. Alexander Mitscherlich schreibt: „Die Lebensformen des Menschen in der industrialisierten Gesellschaft stellen eine der härtesten Belastungsproben dar, die er sich, seit er Umwelt schafft, arrangiert hat.“ Für eine Massengesellschaft, die von der industriellen Produktion lebt, ist die Großstadt allerdings eine unausweichliche Gegebenheit.

Produktive Kritik an der Großstadt besteht für Alexander Mitscherlich darin, Wege zu finden, wie das Milieu der Großsiedlung stärker kultiviert werden kann. Viele Krankheiten, die in früheren Zeiten den sicheren Tod bedeuteten, haben heute ihren Schrecken verloren.

Die psychosomatische Medizin achtet auf die Erlebnisse und die Lebensgeschichte der Menschen

Alexander Mitscherlich erklärt: „Die sogenannte psychosomatische Medizin setzt diese Forschungsweise fort, indem sie auch solche Krankheiten, die bisher als rein äußerlich oder konstitutionell verursacht gedacht wurden, auf dem Erlebnishintergrund und in der Lebensgeschichte des Menschen einzeichnet und in vielem vorgezeichnet wahrnimmt.“

Alexander Mitscherlich vertritt die Auffassung, dass gesellschaftliche Zustände durch die individuellen Entscheidungen, durch die individuelle seelische Verfassung mit erhalten werden. Sie werden freilich vom Kollektiv nahegelegt. Im Laufe seines Lebens erwirbt der Mensch dann ein Verständnis seiner selbst und der anderen.

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies

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