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Michel de Montaigne analysiert das widersprüchliche Selbst

Für den Philosophen Michel de Montaigne sind die Menschen wandelnde Gegensätze: „Schamhaft und unverschämt, keusch und geil, schwatzhaft und schweigsam.“ Denn wer immer sich selbst aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit. Das philosophische Projekt von Michel de Montaigne lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wandlungen beobachten, Widersprüche freilegen und die Selbsterkenntnis vorantreiben. Eine seiner Diagnosen über die Menschen lautet: „Wir gehen nicht, wir werden geschoben wie Treibholz, bald sanft, bald heftig, je nachdem, ob das Wasser aufgewühlt oder ruhig dahinfließt.“ Nichts glaubt Michel de Montaigne den Menschen schwerer als Beständigkeit, nichts leichter als Unbeständigkeit. Im ganzen Altertum findet man seiner Meinung nach kaum ein Dutzend Menschen, die in ihrem Leben stets einer bestimmten Richtschnur gefolgt wären, was doch das Hauptziel der Weisheit ist.

Maßlosigkeit verträgt sich unmöglich mit Beständigkeit

Weisheit kann man wie folgt definieren: „In ein einziges Wort gefasst und in eine einzige Regel, die alle Regeln unseres Lebens umschließt, heißt Weisheit: Man muss stets ein und dasselbe wollen und stets ein und dasselbe nicht wollen.“ Diese Definition gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass der Wille das Rechte will; denn will er nicht das Rechte, kann er unmöglich stets ein und derselbe sein. Michel de Montaigne hat erkannt, dass das Laster nichts als Regel- und Maßlosigkeit ist und sich daher unmöglich mit der Beständigkeit verträgt.

Demosthenes soll gesagt haben, Beratschlagen und Nachdenken bildeten den Anfang aller Tugend, deren Ziel und Vollendung aber sei eben die Beständigkeit. Wenn sich ein Mensch nach reiflicher Überlegung für einen bestimmten Weg entscheidet, wird er wohl den schönsten wählen; doch keiner denkt darüber nach. Denn das übliche menschliche Verhalten besteht in den allermeisten Fällen darin, den augenblicklichen Neigungen der eigenen Begierde zu folgen: nach links, nach rechts, bergauf, bergab, wie der Wind der Gelegenheiten einen treibt.

Extrem wetterwendisch sind die menschlichen Anwandlungen

Was Menschen sich in einem Augenblick vorgenommen haben, ändern sie im nächsten – und machen es sogleich wieder rückgängig: ein heilloses Hin und Her, als ob fremde Hände die Menschen wie Marionetten zappeln ließen und wir nur zu folgen hätten. Michael de Montaigne schreibt: „Denn keiner weiß, wohin er will, und fort und fort, versuchen wir uns zu entfliehen, von Ort zu Ort.“ Jeden Tag eine neue Grille, derart wetterwendisch sind die menschlichen Anwandlungen: „Es wechselt, was die Menschen denken, gleich dem Licht, das, wie es Jupiter beliebt, durchs Dunkel bricht.“

Viele Menschen wanken von einer Vorstellung zur anderen. Nichts vermögen sie aus der freien Entscheidung ihres Willens, nichts wollen sie ganz und nichts beständig. Für Michel de Montaigne dagegen steht fest: „Erlegte sich jemals einer im Geist von vornherein bestimmte Gesetze für sein Handeln auf, würden wir überall aus seiner Lebensführung eine große Ordnung und Stetigkeit, ja, die untrennbare Verschwisterung von Prinzip und Praxis hervorleuchten sehn.“ Als Bespiel für so einen grundsatztreuen Mann nennt Michel de Montaigne den Senator und Feldherrn Cato den Jüngeren.

Von Hans Klumbies

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