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Liebe braucht keine Anhänglichkeit

Einen Menschen wahrhaftig zu lieben bedeutet, sein Glück zu wollen. Das ist für eine Paarbeziehung und eine Freundschaft notwendig. Frédéric Lenoir erklärt: „Wir freuen uns über das Glück unserer Angehörigen, selbst wenn sie eine andere Wahl als wir selbst treffen.“ Der libanesische Dichter Khalil Gibran drückt das perfekt in seinem Buch „Der Prophet“ aus. Er schreibt: „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind Söhne und Töchter der Sehnsucht allen Lebens nach sich selbst.“ Deshalb fordern Weisheitslehren ihre Leser auf, zu lieben, ohne anhänglich zu sein. Dass man mit dem Herzen an seinen Angehörigen und Freunden hängt, ist jedoch völlig normal. Das Gegenteil wäre ja beunruhigend. Wenn man in einer Weisheitslehre von „Gleichgültigkeit“ spricht, ist damit eine Haltung gemeint, in der man den anderen nicht an sich reißt und ihn nicht als sein Eigentum betrachtet. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

In der Liebe darf man nicht klammern

Es geht dabei auch darum, sich vor einer Abhängigkeitsbeziehung zu schützen. Frédéric Lenoir erläutert: „Lieben wir doch das Leben, ohne dies ausschließlich durch das Prisma einer Gefühlsbeziehung zu tun.“ Man kann sich also mit dem Herzen verbunden fühlen, ohne zu klammern. Denn das wäre Besitzdenken oder Abhängigkeit. Der menschliche Geist ist in der Lage, eine Person von diesem Klammern und Besitzdenken zu befreien, von dieser Abhängigkeit, die schon so viel Unglück oder Dramen verursacht hat.

Das „Nicht-Festhalten“ ist also nicht das Ergebnis fehlender, sondern vielmehr einer herausragenden Liebe. Weil man den anderen ohne Besitzanspruch oder Abhängigkeit lieben möchte, kultiviert man das „Nicht-Festhalten“. Es ist jedoch schon klar, dass man auch aus mangelnder Liebe „loslassen“ kann. Doch man darf diese beiden Formen der Gleichgültigkeit nicht verwechseln, denn sie haben nichts miteinander zu tun. Der Verlust eines Verwandten, eines Ehegatten oder eines lieben Freundes geht mit tiefer Traurigkeit einher.

Man muss das universelle Gesetz von Geburt und Tod annehmen

Denn man wird von einem Menschen getrennt, den man liebt. Doch auch die Traurigkeit hat einen unterschiedlichen Charakter. Je nachdem, ob man in einer Festhalten-Besitzdenken-Abhängigkeit steckt oder in einer Nicht-Abhängigkeit. Im ersten Fall bricht für den Betroffenen eine Welt zusammen und das Sterben des Angehörigen wirft ihn auf seine Unzulänglichkeiten zurück. Er spürt seine emotionale Zerbrechlichkeit, ja sogar die eigene Angst vor dem Tod.

Im zweiten Fall akzeptiert ein Mensch den Verlust dieses lieben Wesens, indem er das universelle Gesetz von Geburt und Tod annimmt. Frédéric Lenoir stellt fest: „Vielleicht wissen wir ja, dass sein Hinscheiden auch gut für ihn war, und erinnern uns an alle gemeinsamen glücklichen Momente.“ Dann kann man sogar mitten in seiner Traurigkeit eine gewisse Freude spüren. Frédéric Lenoir hat das erlebt, als seine Lebensgefährtin verstorben ist, oder auch beim Tod seines Vaters. Quelle: „Weisheit“ von Frédéric Lenoir

Von Hans Klumbies

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