Die Liebe macht viele Menschen demütig
Wenn man heute von „Gemeinsinn“ spricht, stellt man sich darunter jemanden vor, der Petitionen, Demonstrationen und Proteste organisiert und der seine Stimme zum Wohl der Allgemeinheit erhebt. David Brooks ergänzt: „Aber in früheren Epochen war damit eine Person gemeint, die ihre Leidenschaften gezügelt und ihre Meinungen gemäßigt hat, um einen umfassenden Konsens zu erreichen und unterschiedlichste Menschen zusammenzubringen.“ Viele Menschen stellen sich Gemeinsinn als Durchsetzungskraft vor, aber früher verstand man darunter die Fähigkeit zu Selbstbeherrschung. Dabei lernt man eine innere Struktur zu entwickeln, um die chaotischen Impulse im Innern zu kontrollieren. Sündhaftigkeit wird dabei indirekt durch uneigennütziges Verhalten bekämpft. Damit führt man das Leben von den schlimmsten Tendenzen weg. David Brooks arbeitet als Kommentator und Kolumnist bei der New York Times. Sein Buch „Das soziale Tier“ (2012) wurde ein internationaler Bestseller.
Wenn man die Liebe in ihrer leidenschaftlichsten Phase betrachtet, erkennt man tatsächlich, dass sie mehrere Wirkungen entfaltet, die eine seelische Neuausrichtung befördern. David Brooks erläutert: „Erstens macht sie uns demütig. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht einmal unser Selbst in der Gewalt haben. In den meisten Kulturen und Zivilisationen wird die Liebe in Mythen und Erzählungen als eine äußere Kraft beschrieben – ein Gott oder Dämon –, die in eine Person eindringt und diese gänzlich in Beschlag nimmt und gewissermaßen umprogrammiert.“
Die Liebe wird auch als köstlicher Wahnsinn beschrieben, als ein wütendes Feuer oder eine himmlische Raserei. Die Liebe ist eine Art Unfall, die sich der menschlichen Kontrolle entzieht. Sie ist sowohl eine Naturkraft als auch etwas spezifisch Menschliches, mitreißend und erschreckend, eine elektrisierende Energie, die man nicht planen, nicht bändigen oder in geordnete Bahnen lenken kann. Liebe ist eine Invasionsarmee, die Menschen daran erinnert, dass sie nicht Herr in ihrem eigenen Haus sind.
Liebe ist die mächtigste Armee
Die Liebe eroberte einen Menschen nach und nach, verändert sein Energieniveau, sein Schlafverhalten und seine Gesprächsthemen und führt schließlich eine Neuausrichtung des sexuellen Begehrens und der Aufmerksamkeit herbei. Wenn man verliebt ist, denkt man in einem fort an die geliebte Person. David Brooks fügt hinzu: „Man geht durch eine Menschenmenge und glaubt sie alle paar Meter in einer irgendwie vertraut erscheinenden Silhouette zu erkennen. Man erlebt jähe Stimmungswechsel und fühlt sich durch Bagatellen oder eingebildete Affronts gekränkt.“
Liebe ist die mächtigste Armee, weil sie keinen Widerstand hervorruft. Selbst wenn die Armee erst das halbe Territorium erobert hat, sehnt sich die Person, in die sie einfällt, mit wonniglichem Schauder danach, vollkommen besiegt zu werden. Liebe ist eine Kapitulation. Man entblößt seine tiefsten Verwundbarkeiten und gibt seine Illusion der Selbstbeherrschung auf. Diese Verwundbarkeit und der Wunsch nach Unterstützung können sich in Kleinigkeiten manifestieren. Quelle: „Charakter“ von David Brooks
Von Hans Klumbies