Der Widerspruch zwischen Liebe und sozialer Pflicht hat sich aufgelöst
Die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim stellt fest: „Wen wir lieben, wie oft wir lieben, ob wir heiraten, ob wir uns trennen, all das ist nicht nur individuell, sondern stark von der Gesellschaft geprägt.“ Doch bei allen Freiheiten, die die moderne Gesellschaft bietet: Die Freizügigkeit in Sachen Liebe hat ihren Preis; erst sie sorgt für all den Liebeskampf und –krampf, mit dem sich der moderne Mensch herumschlägt. Die zeitgeschichtlichen Veränderungen in Sachen Liebe sind groß. Ulrich Schnabel erklärt: „So war die Beziehung zum anderen Geschlecht noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durch eine Vielzahl rigoroser Verhaltensregeln und Vorschriften geregelt, was Stoff für große epische Dramen abgab. Die Romane dieser Zeit waren voll von Geschichten über den Zwiespalt zwischen Gefühl und gesellschaftlicher Pflicht.“ Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.
Selbstbestimmung war das zentrale Projekt der Moderne
Und häufig blieb den Liebenden – in der Literatur wie im echten Leben – nichts anderes übrig, als sich entweder mit einem ungeliebten Partner abzufinden, ins Kloster zu gehen oder sich – wie Anna Karenina oder der junge Werther – in den Selbstmord zu stürzen. Heute dagegen ginge man wohl eher zum Therapeuten oder würde bei einer Partnervermittlung im Internet nach einem neuen Glück suchen. Und niemand muss mehr damit rechnen, seiner Gefühle wegen gesellschaftlich geächtet zu werden.
Der jahrhundertlang empfundene Widerspruch zwischen Liebe und sozialer Pflicht, zwischen Gefühl und Tradition – er hat sich einfach aufgelöst, ist verschwunden und heute kaum mehr vorstellbar. Denn mit dem Beginn des modernen Zeitalters im 18. Jahrhundert, mit Aufklärung, Französischer Revolution und wissenschaftlich-technischem Fortschritt, begannen die alten traditionellen Regeln zu verblassen. Selbstbestimmung war das zentrale Projekt der Moderne, das Grundversprechen der Aufklärung.
Der moderne Mensch leidet an Bindungslosigkeit und Beliebigkeit
Ulrich Schnabel erläutert: „Nicht länger sollte der Mensch von Geburt an durch Stand und Konvention festgelegt sein, sondern frei entscheiden dürfen über seine Lebensführung.“ Privilegien, Anerkennung und Status galten fortan nicht mehr als gottgegeben und vorherbestimmt, sondern sollten jedermann zugänglich sein durch entsprechende Leistung, Talent und harte Arbeit. Leider haben diese freiheitlichen Errungenschaften auch ihre Nebenwirkungen. So trat zum Beispiel an die Stelle der alten feudalen Ordnung die Logik des Wettbewerbs. Jeder konkurriert mit Jedem.
Und anders als unsere Vorvorfahren leidet der moderne Mensch nicht mehr an einem Übermaß an Regeln, Traditionen und Vorschriften, sondern eher unter einer weitgehenden Bindungslosigkeit und Beliebigkeit. Theoretisch steht ihm die ganze Welt offen, er kann den Beruf ebenso frei wählen wie seinen Lebenspartner, kann reisen, essen oder denken, wie es ihm beliebt. Praktisch aber schlägt sich der moderne Mensch mit einem kaum zu bewältigenden Angebot an Wahlmöglichkeiten herum und fühlt sich nirgendwo automatisch zugehörig. Quelle: „Was kostet ein Lächeln?“ von Ulrich Schnabel
Von Hans Klumbies