Bilderfluten rauben viel Energie
Niemand stellt die Dinge so perfekt dar wie die Werbung. Es gibt inzwischen eine Bildbearbeitungsindustrie, die dafür sorgt und den Sog in diese Richtung verstärkt. Eine der heftigsten psychischen Überlastungen durch die Digitalisierung hängt mit der immensen Bilderflut zusammen. Mit dieser überschwemmen die Bildschirmmedien die User. Wolfgang Schmidbauer stellt fest: „Dadurch entsteht eine Unruhe, die Energie kostet. Die Bilder saugen uns in einen Strudel, der aus einer spontanen Freude am Schönen und Aufregenden seine Kraft gewinnt.“ Diese Kraft artet aus zum Verhängnis, sobald eine überoptionale Welt zum ständigen Begleiter der Menschen wird. Sie bleibt nicht mehr, wie ein Theater- oder Zirkusbesuch, die klar vom Alltag getrennte Ausnahme. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer ist Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher, die sich millionenfach verkauften.
Wabi Sabi lehrt die Schönheit des Mangels
Viele Menschen sind dauernd dem Vergleich mit einer optimierten Welt ausgesetzt. In dieser ist alles attraktiver, als man es selbst ein kann. Die Dialoge sind ausdrucksvoller, die Gesichter und Körper schöner, die Ereignisse dramatischer. Sie entfernen sich durch diesen bedrückenden Vergleich immer mehr von dem Selbstgefühl, eine produktive Rolle spielen zu können. Wolfgang Schmidbauer weiß: „Die Unzufriedenheit junger Menschen mit ihrer Figur, ihrem Aussehen, ihrem biologischen Geschlecht wächst.“
Die eigene körperliche und psychische Realität wird nicht angenommen, sie soll ganz anders werden. Das sind dann oft keine Reparaturen eines Schadens mehr, sondern Beschädigungen des gesunden Organismus. Es ist für Wolfgang Schmidbauer zu wenig, nach Toleranz für Unvollkommenheit zu rufen. Das japanische ästhetische Konzept Wabi Sabi lehrt die Entdeckung der Schönheit in dem, was dem wertenden Blick als Mangel erscheint. Dazu zählen Falten in einem Gesicht, Gebrauchsspuren an einem Gerät, Narben, Asymmetrie.
Die Seele entwickelt sich nur in der Wirklichkeit
Man kann darin Fehler sehen, die einer Norm weichen sollten, oder Eigenarten, die auf ihre Weise kostbar sind. Die Zahl der Menschen wächst, die auf der Suche sind, aber nie ankommen. Sie fühlen sich im falschen Beruf, im falschen Land, in der Ehe mit dem falschen Partner, selbst im falschen Körper gefangen. Sie sind überzeugt, dass sie diese Unzufriedenheit nur heilen können, wenn sie das verlasen, was sie daran hindert, sich dort zu beheimaten, wo es nicht mehr falsch ist.
Wolfgang Schmidbauer fasst zusammen: „So entsteht eine tückische Ruhelosigkeit, erfüllt von der Sehnsucht, endlich Frieden zu finden.“ Der Frieden wird jedoch nicht in dem liebevollen Umgang mit dem Bestehenden und seinen Mängeln gesucht. Sondern man sucht ihn darin, es hinter sich zu lassen und eine neue Ganzheit zu finden. Eine gelingende körperliche und seelische Entwicklung orientiert sich an der Wirklichkeit und nicht an Fantasien über die Möglichkeiten, in einer optimierten Hyperrealität einen Platz zu finden. Quelle: „Die Kunst der Reparatur“ von Wolfgang Schmidbauer
Von Hans Klumbies