Alle Menschen können fehlerhafte Detektive sein
Das Gedächtnis eines Menschen arbeitet fast nie ganz zuverlässig. So sehr sich die meisten Menschen wünschen würden, dass die Justiz unfehlbar sei, dass die Polizei immer den tatsächlich Schuldigen fasst, wissen sie doch, dass das in Wahrheit nicht der Fall ist. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Menschen wegen schrecklicher Verbrechen zu Unrecht verurteilt und eingesperrt wurden. Julia Shaw nennt Zahlen: „Im Durchschnitt verbrachten diese Menschen 14 Jahre im Gefängnis, und das wegen eines Verbrechens, dass sie nicht begangen hatten. Fehlerhafte Erinnerung spielte in mindestens 75 Prozent der Fälle eine Rolle.“ Wenn solche Fälle später überprüft werden, wird häufig klar, dass die beteiligten Polizisten alles in ihrer Macht stehende getan haben, um einen Verdächtigen hinter Schloss und Riegel zu bringen. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.
Bei jedem Menschen kann es zu psychologischen Verzerrungen der Wahrnehmung kommen
Es ist für Julia Shaw vollkommen plausibel, dass die Polizisten einfach einer Reihe von psychologischen Verzerrungen der Wahrnehmung aufsaßen. Sie können einen „Tunnelblick“ entwickeln und dann Indizien überbewerten, die ihre Argumentationslinie stützen und dafür Informationen diskreditieren oder ignorieren, die ihr widersprechen. Und das gilt nicht nur für die Polizei – so etwas kann jedem unterlaufen, weil falsche Information in jede der kohärenten Geschichten einsickern kann, die man konstruiert, um die Wirklichkeit zu verstehen.
Julia Shaw gebraucht dafür einen Begriff, der von einem der führenden Rechtspsychologen der Welt, Peter van Koppen, entwendet ist: „Wir können allesamt defective detectives (fehlerhafte Detektive) sein.“ Wenn man ein Ereignis als sinnvoll begreifen will, dafür aber nicht genügend Informationen hat, neigt man dazu, plausibles Füllmaterial einzufügen, mit dem man die Lücken stopfen kann. Für den menschlichen Verstand müssen Ereignisse einen linearen Verlauf, Zusammenhänge und Gründe haben.
Sehr viele Menschen neigen zur Selbstüberschätzung
Wenn ein Mensch erst einmal zu dieser Art von plausiblen Narrativ gelangt ist, kann er eine unglaubliche Überzeugung aufbauen, dass es richtig ist. Eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass die meisten Menschen glauben, sie seien intelligenter, attraktiver und kompetenter als der Durchschnitt. Was natürlich statistisch unmöglich ist. Und doch haben Untersuchungen diesen Effekt der Selbstüberschätzung auf allen möglichen Gebieten festgestellt. Zum Beispiel überschätzen Polizisten ihre Fähigkeit, Lügner entlarven zu können. Und Studierende überschätzen die Noten, die sie für ihre Kurse bekommen werden.
Der Sozialwissenschaftler Dominic Johnson von der Universität Edinburgh und James Fowler von der University of California schrieben 2011 in der Zeitschrift „Nature“: „Menschen weisen zahlreiche psychologische Wahrnehmungsverzerrungen auf, aber zu den hartnäckigsten, stärksten und am weitesten verbreiteten gehört die Selbstüberschätzung.“ Die Illusion der Überlegenheit, die eigenen positiven Eigenschaften zu überschätzen und die negativen zu unterschätzen, ist selbstredend mit dem Gedächtnis verknüpft, denn um über die guten Eigenschaften nachdenken zu können, muss man sich an das erinnern können, was man in seinem Leben gut gemacht hat und was Belege für diese Eigenschaften liefert. Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw
Von Hans Klumbies