Gerechtigkeit wird sehr subjektiv empfunden
Wer sich besonders kämpferisch für die Idee der Gerechtigkeit einsetzt, bemerkt selten, dass er sich damit anmaßt, die „Gewaltentrennung“ aufheben zu dürfen, was übrigens in diktatorischen Staaten oft geschieht. Helga Kernstock-Redl fügt hinzu: „Es bedeutet zu glauben, dass die selbst aufgestellten, inneren Gesetze und Regeln unzweifelhaft richtig sind, dass es in Ordnung ist, selbst Beweise für Verfehlungen zu sammeln, darüber zu richten, das Strafmaß zu bestimmen und auch gleich Strafen, Kampf- oder Rettungsaktionen umzusetzen.“ All das kann innerhalb weniger Sekunden erledigt sein und gipfelt in der Verurteilung: „Du bist total ungerecht! Das ist unfair!“ Motiviert werden Kämpfende für die Gerechtigkeit von einem unerschütterlichen Gefühl samt der Gewissheit, auf dem rechten Weg zu sein, eine Art Superheldentum lebend. Helga Kernstock-Redl ist Psychologin und Psychotherapeutin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Psychologie der Gefühlswelt.
Konflikte laufen meist zwischen zwei oder drei Parteien ab
Dass Gerechtigkeit im Alltag üblicherweise eine höchst subjektive Angelegenheit ist, abhängig ausschließlich von persönlichen Definitionen, wird gern und vollständig ausgeblendet. Helga Kernstock-Redl gibt noch einen Tipp am Rand: „Konflikte laufen typischerweise zwischen zwei, meistens jedoch drei Positionen ab: der oder die Beschuldigte, die Person mit dem Opfer-Unrechtsgefühl und einer oberen Instanz, die meist vom Opfer, um Hilfe gebeten wird.“
Manchmal gehört die letzte Rolle zur „Jobbeschreibung“ als Eltern oder Vorgesetzte. Helga Kernstock-Redl ergänzt: „In der Diskussion wird die Schuld hin- und hergeschoben, aufgeteilt, zugewiesen, übernommen oder abgelehnt. Möglich ist übrigens auch eine Personalunion von zwei, vielleicht sogar drei Positionen.“ Dabei kann man quälend lange Schulddiskussionen in Form von „Gerichtsprozessen“ sogar mit sich allein, also in der eigenen Innenwelt austragen müssen. Helga Kernstock-Redls Erfahrung nach appellieren „obere Instanzen“ viel zu lange an die Vernunft oder bieten Scheinlösungen an.
Zufriedenstellende Gerechtigkeit ist schwer herzustellen
Und zwar meistens dort, wo es schon längst nur mehr um den Gerechtigkeits-Kampf geht. Man kann auch aktiv werden, ganz ohne sich auf die Erwartung „Sei du unser Schiedsrichter, unsere Rechtssprecherin!“ einzulassen. Helga Kernstock-Redl betont: „Meistens würde es auch gar nicht funktionieren, für zufriedenstellende Gerechtigkeit sorgen zu wollen, obwohl das vielleicht der ausdrückliche Wunsch der Beteiligten ist.“ Doch zu unterschiedlich sind in Wahrheit die Vorstellungen darüber.
Heimlich wünscht sich wohl niemand, der vor Gericht zieht, eine Rechtsprechung, sondern vielmehr eine Rechtgebung. Helga Kernstock-Redl erläutert: „Nützlich ist es jedoch, die dahinterstehenden, gebrochenen Gesetze gemeinsam zu erforschen, die Wahrnehmung wieder zurechtzurücken, irgendwann zu einen Schuldausgleichsritual einzuladen oder aus dem Konflikt auszusteigen und dann einen der am Buchende von „Schuldgefühle“ vorgeschlagenen Wege zu gehen, um die Schuld- und Opfergefühle loszuwerden. Quelle: „Schuldgefühle“ von Helga Kernstock-Redl
Von Hans Klumbies