Scham und Peinlichkeit können nur durch Reflexivität entstehen

Zu den Grundbedingungen von Scham und Peinlichkeit gehört die Reflexivität: Ich sehe mich selbst. Für Ulrich Greiner ist es ein Ich, das mich (sich) mit den Augen der anderen erblickt: „Ich beobachte mich in einer bestimmten Situation so, als würden mich andere beobachten. Jetzt erst erkenne ich meine Nacktheit, und das bedeutet, schutzlos ausgeliefert zu sein.“ Diese Nacktheit entsteht zum Beispiel, wenn eine Person unpassend angezogen ist, overdressed oder underdressed, was je nach Lage und Stimmung als sehr peinlich empfunden werden kann. Die Nacktheit kann aber auch eine geistig-moralische sein. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Eine Spiegelung setzt zwei verschiedene Akteure voraus

Ein Mensch kann auch plötzlich seine spontanen Triebe und Begierden mit dem Auge des Über-Ichs erblicken, also in der Perspektive jener Werte und Normen des Verhaltens, die anerzogen worden sind. Dieser Perspektivwechsel kann Schamgefühle wecken, weil er den Abgrund zwischen Sein und Sollen vor Augen führt, und zwar ganz unabhängig davon, ob es in diesem Augenblick anwesenden Zeugen der unerlaubten Wunschregungen gibt. Ulrich Greiner fügt hinzu: „Diese Spiegelung setzt zwei verschiedene Akteure voraus: das Ich, das sieht, und das Ich, das gesehen wird.“

Die Unmöglichkeit, dass ein Mensch sich so sieht, wie andere ihn sehen, kann zu einer Quelle der Verunsicherung und der Selbstzweifel werden und dies wiederum zum Einfallstor externer Mahr. Ulrich Greiner erklärt: „Denn das Schamgefühl entsteht aus einer geschwisterlichen Doppelung einer Ich-Empfindung, die plastisch ist. Sie kann sich von innen und zugleich von außen sehen, bleibt aber letztlich und eigentlich die einer einzigen Person.“

Das Schamempfinden kann sich in pure Aggressivität verwandeln

Für Robert Spaemann ist die Reflexion nur eine der verschiedenen Erscheinungsformen der inneren Differenz: „Die Differenz bestimmt unser Dasein, auch wenn wir isten Menschen die Aufspaltung des Ichs in zwei einander völlig fremde Wesen, wie es bei schweren psychischen Erkrankungen der Fall ist.

Vertraut dagegen ist vielen Menschen der Konflikt der einander benachbarten Innen- und Außenperspektive. Ulrich Greiner erläutert: „Das Ich sieht sich selber abwechselnd mit dem inneren und dem äußeren Auge, und dieser Vorgang ist, wie Spaemann sagt, die Bedingung von Moralität, also auch von Schuld- und Schamgefühlen.“ Bei Menschen, die das noch mpfinden oder ist noch gar nicht entwickelt. Bei sehr kranken oder sehr bösen Menschen kann es sich in sein Gegenteil verkehrend und sich in pure Aggressivität verwandeln.

Von Hans Klumbies

Related posts

Leave a Comment