Skandale bringen schlechte Eigenschaften hervor
Über Skandale können die Schattenseiten des Daseins ausagiert werden. Alle Menschen kennen die Gefühle des Neids, können eifersüchtig sein, haben sexuell Fantasien, sind von Gier getrieben oder kämpfen mit Gelüsten der Rache. Allan Guggenbühl fügt hinzu: „Solche Empfindungen gestehen wir uns jedoch nicht ein. Wir lassen sie nicht zu, da sie im Widerspruch zu unserem Selbstbild stehen.“ Die meisten Menschen versuchen gut zu sein und verdrängen Eigenschaften, die zwar menschlich, aber unerwünscht sind. Skandale bringen diese zum Vorschein. Statt über sich selbst nachzudenken, regt man sich über das finstere Treiben anderer Menschen auf. Man kann sich dann mit seinen Mitmenschen im Kampf gegen diese unheimlichen Seiten verbünden und sich gleichzeitig selbst beweisen, dass man eben nicht so ist. Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.
Eine perfekte Gemeinschaft ist unerträglich
Der öffentliche Diskurs präsentiert Skandale, damit sich Menschen als verschworene Gemeinschaft im Kampf gegen das Dunkel erleben können. Die Empörung verhindert die öffentliche Akzeptanz des unbotmäßigen Verhaltens und fungiert so als Signal: „Schau, das passiert, wenn man sich so benimmt!“ Wie in Beziehungen können Streitigkeiten und Konflikte auch verbinden. Skandale dienen auch der Selbstvergewisserung: Ist die Gemeinschaft noch fähig, Gegenkräfte zu mobilisieren, oder verharrt sie in einem sklerotischen Zustand?
Skandale können Gesellschaften zu einem Schub an Vitalität verhelfen. Die Aufregung mündet dann in einer größeren inneren Kohärenz. Man rückt zusammen und hat außerdem das Gefühl, mitten im Geschehen zu stehen. Allan Guggenbühl erklärt: „In einer völlig friedlichen und perfekt gestalteten Gemeinschaft zu leben wäre unerträglich und wir hätten ein Gefühl der Sinnlosigkeit.“ Interessant ist, dass es den sogenannten „Gated Communities“ in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht anders ergeht.
Eine Gesellschaft ohne Moral ist nicht vorstellbar
Der öffentliche Diskurs prangert Fehlerverhalten an und viele Menschen entsetzen sich darüber. Wenn es um eigene Fehler geht, setzt man zuweilen ganz andere Maßstäbe und rechtfertigt amoralische Handlungen durch Selbstabsolutionen. Menschen handeln oft gegen ihre innere Moral, entlasten sich jedoch mit einer probaten Erklärung, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Eine Gesellschaft ohne Moral ist weder vorstellbar noch wünschenswert. Der öffentliche Diskurs beschreibt nicht nur, was Menschen tun und treiben, sondern auch, wie sie sich verhalten sollen. Er inszeniert also moralische Diskussionen.
Manchmal waltet der öffentliche Diskurs auch wie ein Gerichtshof und identifiziert Sündenböcke, Opfer und Bösewichte. Obwohl Vorfälle manchmal noch gar nicht richtig geklärt sind, kommt es immer wieder zu Vorverurteilungen, die für die betreffenden Personen fatale Folgen haben. Die Reputation, oft auch das Privatleben und die Karriere werden zerstört. Der öffentliche Diskurs kennt keine Gnade und nimmt wenig Rücksicht auf einzelne Personen. Wenn ein Sündenbock gefunden ist, kann dies eine Dynamik auslösen, der sich die Beteiligten nicht entziehen können. Quelle: „Die vergessene Klugheit“ von Allan Guggenbühl
Von Hans Klumbies