Man kann Menschen sehr einfach falsche Erinnerungen einpflanzen
Aus der Forschung weiß man, dass so gut wie jede vermeintliche Erinnerung vor dem dritten Lebensjahr eine Fiktion ist, weil alle Menschen an „infantiler Amnesie“ leiden. Man hat so gut wie keine autobiografischen Erinnerungen an seine ersten drei Lebensjahre. Philipp Hübl erklärt: „Viele von uns kennen sicherlich ähnliche Pseudoerinnerungen, die sich später anhand von Fotos oder Aufzeichnungen der Eltern eindeutig als falsch erwiesen haben.“ Die eigentliche Spannung zwischen Pseudoerinnerungen und der Wirklichkeit besteht darin, dass man sich subjektiv sicher ist, sich also von innen echt und real anfühlt, aber die Fakten eindeutig die Geschichte widerlegen. Auch Erwachsene sind anfällig für solche Irrtümer, und zwar so sehr, dass man nach einem Einblick in die Forschung seinen eigenen Lebenserinnerungen plötzlich skeptisch gegenübersteht. Er Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart.
Erinnerungen funktionieren nicht wie Filmaufzeichnungen
In vielen Experimenten konnten Wissenschaftler nachweisen, wie einfach man jemanden falsche Erinnerungen einpflanzen kann. Diese Forschung ist vor allem für die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen relevant. So zeigen beispielsweise Studien, dass drei Viertel von mehr als 100 wegen nachgewiesener Unschuld entlassene Häftlinge in den USA aufgrund fehlerhafter Zeugenaussagen inhaftiert waren. Doch die Wissenschaft wirft auch ein trübes Licht auf die Selbstbilder von Menschen.
Philipp Hübl erläutert: „Viele Erinnerungen, die wir als prägend oder zentral für unsere Persönlichkeit ansehen, die wir anderen als Anekdoten erzählen und anhand deren wir manchmal sogar unsere Charaktereigenschaften veranschaulichen, können falsch sein, ohne dass wir es merken.“ Eine der überraschendsten Entdeckungen der jüngeren psychologischen Forschung ist die Tatsache, dass Erinnerungen eben nicht wie Filmaufzeichnungen funktionieren, die man immer wieder abspielen kann, sondern dass sie eher nach dem Stille-Post-Prinzip arbeiten, bei dem sich der Inhalt mit jedem neuen Erzählen ein klein wenig verändert.
Autobiographien enthalten mehr Dichtung als Wahrheit
Darum sind Autobiographien auch so ein seltsames Genre. Besonders wenn Menschen im hohen Alter ihre Lebenserinnerungen aufzeichnen, kann man davon ausgehen, dass die Geschichten mehr Dichtung als Wahrheit enthalten. Aus der Tatsache, dass Menschen Erinnerungen rekonstruieren, schließen einige Forscher, dass es sich dabei um bloße Konstruktion handelt. Aber diese These scheint zu drastisch zu sein. Die Kernelemente von Ereignissen können sich Menschen schon gut genug ins Gedächtnis rufen, wie andere Studien zeigen.
Doch insbesondere die Details und die Umstände werden oft vergessen und sind daher instabile und bewegliche Bausteine im Gedächtnis. Gerade wenn man sich prägende Ereignisse des eigenen Lebens genauer anschaut, scheint die Instabilität noch größer zu sein. Aber nicht nur der Mechanismus der Erinnerung ist unzuverlässig, sondern viele Menschen scheinen oft eine Motivation zu haben, ihre Erinnerungen wissentlich oder unmerklich zu überarbeiten zu zurechtzurücken. Das geht von milden Fällen der Selbstüberschätzung bis zu schwerwiegenden Fällen der Selbsttäuschung. Quelle: „Der Untergrund des Denkens“ von Philipp Hübl
Von Hans Klumbies